„Wenn eine Frau traurig ist, bekommt sie meinen Trost, wenn sie ihn braucht. Das ist das Leben. Und ich werde nie mehr irgendwo arbeiten, wo mir nicht gestattet ist, einem Menschen menschlichen Beistand zu leisten.“ – oder – „Es muss ein Ende haben, dass die Jobs der „Kümmerer“ diese selbst krank machen.“
Anja Bendel
Für meine Interviewreihe „Mach’s weg“ habe ich Interviews aus verschiedensten Perspektiven über die Corona-Krise, den Graben zwischen “Alternativ-” und Schulmedizin, und über eines der wichtigsten Themen im Leben geführt: Gesundheit. Aber was ist das überhaupt? Lassen sich Krankheiten und ihre Symptome einfach „weg machen“? Wieso kümmern sich Menschen umeinander? Und wie sähe ein Gesundheitssystem aus, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt?
23 gesammelte Mach’s weg“-Interviews sind hier als Buch zu bestellen.
Laurens Dillmann: Wie viele unterschiedliche Facetten hat der Hebammenberuf?
Anja Bendel: Als Hebamme steht mir ein weites Betätigungsfeld offen. Um Geburten zu begleiten, könnte ich angestellt, aber auch als Freiberuflerin im Kreißsaal arbeiten. Etwa zwei Prozent aller Babys in Deutschland werden in Geburtshäusern oder zu Hause von ihren Müttern mit Hebammenhilfe geboren. Es gibt auch rund um die Schwangeren und Familien für Hebammen viel zu tun. Zum Beispiel in eigener Praxis, wo sie Beratung, Vorsorge und Kurse wie Geburtsvorbereitung, Rückbildungskurse, oder Mutter-Kind-Kurse anbieten. Hebammen gehen ebenso zu Hausbesuchen, oftmals in den ersten Tagen nach der Geburt. Das nennt man Wochenbettbetreuung. Das ist eine ganz wichtige Hilfe für die Familien. Es gibt auch Familienhebammen, die Mütter, Kinder und Väter in schwierigen Lebenslagen im Rahmen der Frühen Hilfen ein ganzes Jahr begleiten. Wir Hebammen können natürlich auch alles miteinander kombinieren. Das finde ich sehr reizvoll an meinem Beruf.
Erzähl mir von deinem Berufsalltag. Was genau machst du?
Der jetzige Alltag im Kreißsaal ist sehr unterschiedlich und das liebe ich an der Tätigkeit. Früh-, Spät- und Nachtdienst haben ganz unterschiedliche Arbeitsatmosphären. Neue Menschen stellen dir immer andere Aufgaben, keine Geburt ist gleich. Manchmal habe ich einen Dienst, an dem nichts los ist, manchmal habe ich Zeit für eine ganz persönliche Geburtsbegleitung und manchmal ist die Belastungsgrenze maximal ausgereizt und ich muss mich um viele Menschen gleichzeitig kümmern. Manchmal auch um schwere Schicksale.
Wie genau kümmerst du dich?
Das Kümmern ist so vielfältig. Sprachliche Zuwendung. Hände halten. Massieren. Mit den Frauen Wehen veratmen. Zuversicht geben, die Geburt zu schaffen. Die Dokumentation und Zusammenarbeit mit dem Team des Kreißsaals. Sich um den Vater zu kümmern. Um Getränke. Gerüstet sein für den Notfall. Die Geduld zu haben, bei einer normalen Geburt mit einem selbstständig arbeitenden Paar, nur daneben zu sitzen. Die Hände im Schoß zu halten und sich zu freuen, dass dieses Paar die Geburt ihres Kindes gut bewältigt. Auch das Nichtstun ist manchmal eine Kunst.
Auf welche Werte berufst du dich?
Ich halte mir immer wieder vor Augen, dass jeder Mensch einzigartig ist. Dass jeder Mensch das gleiche Recht hat, bei Geburt bestmöglich unterstützt zu werden. Mit Respekt vor ihrem Lebensweg und ihren Vorstellungen bekommt jede Frau die Hilfe, die sie braucht. Nicht nur die menschliche Hilfe, sondern auch den geeigneten Rahmen für dieses intime Erlebnis der Geburt. Nächstenliebe und Empathie sind dabei ungemein wichtig.
Wie hast du dich verändert, seit du Hebamme bist?
Ich bin viel dankbarer geworden. Ich fühle mich beschenkt und reich. Mit all dem, was die Frauen und ihre Familien mit mir teilen in so einem intensiven Moment wie der Geburt. Ich habe großen Respekt vor natürlichen Körpervorgängen bekommen. Jedes Mal bin ich bezaubert, wenn das Baby auf die Welt kommt und seinen ersten Atemzug tut.
Besteht eine Hierarchie zwischen dir und deinen Kundinnen?
Meine Kunden möchten eine erfahrene Begleiterin für die Geburt. Sie möchten jemanden, der medizinisches Wissen hat, der ihnen menschlich zugewandt ist. Ich sehe mich für die Paare als Bergführerin durch schwieriges Gelände. Jemand, der weiß, wie der Weg zum Gipfel ist. Jemand, der Menschen sicher führen kann, die diesen Gipfel zum ersten Mal besteigen. Im Kreißsaal gibt es gewisse Regeln, an die man sich zu halten hat. Ich bin dann sozusagen Hausherrin. Ich achte darauf, dass die Gebärende unter den Wehen wirklich nur die Begleiter hat, die sie auch wünscht. Ungebetene Besucher habe ich abzulehenen. Dauertelefonate der Geburtsbegleitenden sind ebenso störend und zu unterbinden. Wenn die Frau es wünscht oder selbst keinen Plan hat, gebe ich ihr den Weg durch die Geburt vor.
Was war das tollste Erlebnis und was das Schlimmste, das du erlebt hast?
Mir fallen so viele tolle Erlebnisse ein. Das Kind, das zuhause auf die Welt kam und mit dem Po zuerst geboren wurde. Was wir gar nicht erwartet haben, aber nicht mehr aufzuhalten war. Ich erinnere mich gerade an viele, viele glückliche Gesichter. Schlimm ist es wiederum immer, wenn ein Baby vor oder bei der Geburt verstirbt. Das stellt einen vor die Frage: Warum, warum, warum? Richtig schlimm war es einmal in meiner Hebammenausbildung. Ich habe eine Frau getröstet, deren Baby gerade viel zu früh verstorben war. Als ich diese schluchzende Frau in den Arm nahm und sie tröstete, kam die Kreißsaalleitung herein und hat mich sofort aus dem Raum zitiert und mir versagt, diese Frau in ihrer Trauer zu unterstützen. Es hieß, das dürfe man nicht als Hebamme. Als mir diese Art von Menschlichkeit untersagt wurde, habe ich mich gefragt: Für was sonst soll ich denn Hebamme werden? Das war ganz fürchterlich, diese traurige Frau und ihren traurigen Partner alleine lassen zu müssen. Weil eine Kreißsaalleitung findet, dass man als Hebamme nicht so empathisch zu sein hat. Ich solle Distanz wahren. Das wurde mir so gesagt. Heute arbeite ich nicht mehr unter diesen Umständen. Wenn eine Frau traurig ist, bekommt sie meinen Trost, wenn sie ihn braucht. Das ist das Leben. Und ich werde nie mehr irgendwo arbeiten, wo mir nicht gestattet ist, einem Menschen menschlichen Beistand zu leisten.
Was für Qualitäten braucht ein Mensch, der sich um andere kümmert?
Damit man sich um andere sorgen kann, muss man auch für sich selbst gut sorgen. Außerdem muss man empathisch sein, um sich einfühlen zu können, wie es anderen geht. Man muss detektivische Eigenschaften haben, um zu erfragen, wo genau es zwickt. Man muss mit seiner eigenen Gesundheit gut in Kontakt sein. Das benötigt eine gewisse Selbstreflektion und eine wirklich gute Selbstfürsorge. Der erste Schritt zur eigenen Gesundheit ist die Selbstverantwortung.
Was für Zivilisationskrankheiten siehst du bei deinen Kundinnen?
Natürlich sehe ich über all die Jahre, dass Schwangere immer öfter adipös sind, viel mehr als vor 20 Jahren. Das hängt mit schlechter Ernährung zusammen. Und es gibt einen krassen Gegentrend. Viele Frauen wirken auf mich unterernährt, weil sie sich sehr einseitig ernähren und sehr viele Allergien haben. Denen fehlt es an Energie. Zunehmend beobachte ich die große Angst der Schwangeren und deren Einfluss auf die Geburt. Die Frauen haben in den natürlichen Geburtsprozess und in sich selbst kein Vertrauen, es gut bewältigen zu können und fürchten sich vor jeder kleinsten Kleinigkeit. Sie erlangen keine Selbstwirksamkeit, um die Herausforderung zu meistern. Geburt ist immer ein Ausnahmezustand und sie wollen ihn vermeiden. Das erschafft große innere Blockaden, die man bei einer Geburt eigentlich nicht gebrauchen kann. Für ein Industrieland hat Deutschland eine sehr hohe Frühgeburtenrate. Frühgeburten werden unter anderem durch Stress und vorzeitige Wehen ausgelöst. Das steht psychosomatisch für eine gestresste Psyche. Es gibt immer mehr Frauen, die deswegen vor der Mutterschutzfrist krank geschrieben werden.
Wie berätst du diese gestressten Frauen?
Keine Frau wünscht sich ein Kind, das zu früh auf die Welt kommt. Ich frage sie, was sie denn gerade belastet. Sie sind natürlich froh über gute Ratschläge. Zum Beispiel empfehle ich, sanftes Yoga zu machen. Entspannungsreisen anzuhören, in der Natur spazieren zu gehen. Nicht mehr zum stressigen Job zu gehen, obwohl sie meinen, dort gebraucht zu werden. Oder, wenn die Frauen bereits kleine Kinder haben, schaut man gemeinsam, wer diese Frauen entlasten kann. Damit sie mehr Ruhepausen für sich und ihr erwartetes Kind haben.
Warum werden Schul- und Alternativmedizin voneinander getrennt?
Seit ich mich mit Medizin beschäftige, habe ich mich das auch schon immer gefragt. Denn es ergänzt sich eigentlich hervorragend. Wir Hebammen haben häufig Weiterbildungen in Homöopathie, Akupunktur, Bachblüten, chinesische Ernährungslehre etc. Es gibt so viele alternative Heilmethoden, in denen wir uns weiterbilden können. Für Schwangere, Stillende und Babys gibt es sehr wenige schulmedizinische Medikamente, die Mutter und Kind nicht schaden. Da sind natürlich alternative Heilmethoden gefragt, weil sie wesentlich weniger Nebenwirkungen haben und viel besser vertragen werden. Hebammen hüten seit Jahrhunderten und Jahrtausenden gute Kenntnisse über pflanzliche Heilmittel.
Fühlst du dich für deinen Beruf angemessen gewürdigt?
Ja und Nein. Hebammen erfahren große gesellschaftliche Anerkennung. Die Dankbarkeit vieler Eltern für den Beistand in schweren Stunden ist groß. Andererseits bekomme ich Jobangebote, dass ich für 2000 Euro netto Vollzeit im Schichtdienst im Kreißsaal arbeiten soll, inklusive aller Zulagen und inklusive Zulage für mehrjährige Berufserfahrung. So fühle ich mich nicht wertgeschätzt. Im Rhein-Main Gebiet kann ich mir mit einer vierköpfigen Familie für dieses Gehalt nichts leisten. Keine gescheite Wohnung, keinen durchschnittlichen Lebensstandard. Die finanzielle Würdigung stimmt nicht. Das führt zu Frust und dazu, dass viele Kolleginnen sich andere Betätigungsfelder suchen, die lukrativer sind. Oder sie sagen: Okay, ich kann auch wenig verdienen, aber dann auf viel angenehmere Weise. Sie scheiden aus und arbeiten nur noch in der Vor- und Nachsorge, so ist Personalmangel im Kreißsaal vorprogrammiert. Mit der Privatisierung der Krankenhäuser ist der Dienst am Menschen ein Businessmodell geworden. Viele pflegerische Dienstleistungen, die es früher in der Familie praktisch für umsonst gab, sind nicht mehr da. Jetzt braucht man die professionell Pflegenden und das kostet. Das muss auch entsprechend durch den Lohn gewertschätzt werden.
Wenn du das Gesundheitswesen reformieren könntest:
Ich würde mehr Geld für präventive Angebote ausgeben. Ich würde Kindergarten- und Schulkinder in guten Kontakt mit ihrer Gesundheit bringen und ihnen zeigen, dass sie in ihrer eigenen Verantwortung liegt. Spätestens ab dem Zeitpunkt, an dem sie ihr Elternhaus verlassen, brauchen sie das. Sich entsprechend zu ernähren, zu bewegen und zu entspannen, damit sie gesund bleiben. Wenn sie denn überhaupt noch gesund sind, denn viele Jugendliche sind schon nicht mehr gesund. Zudem ist die Resilienzförderung wichtig. Man bewegt sich in seinem Leben immer zwischen zwei Polen, Gesundheit und Krankheit, und es pendelt hin und her. Das ist das Modell der Salutogenese.
Mit solchen hilfreichen Modellen sollte man Menschen möglichst früh vertraut machen und ihnen diese Werkzeuge an die Hand geben. Ich würde auch für das gesamte Personal im Gesundheitswesen mehr Geld ausgeben. Bzw. einfach mehr Personal da sein lassen. Es ist emotional so unglaublich belastend, wenn man zu wenig Zeit hat, einen Menschen wirklich menschenwürdig zu pflegen. Das ist Ausbeuterei und Stress hoch zehn für jeden, der im Gesundheitswesen arbeitet. Wenn medizinisches Personal bedarfsgerechte Zeit für die Patienten hätte, würden sicher wieder mehr in ihren ursprünglichen Job zurückkehren. Es muss ein Ende haben, dass die Jobs der „Kümmerer“ diese selbst krank machen.
Foto-Credit: Anja Bendel