„Es ist ein Paradoxon, dass menschliche Lust in medizinischen Ausbildungen keine Rolle spielt. Da sieht man, dass unser Gesundheitssystem nicht dazu gemacht ist, Spaß zu haben.“
Yella Cremer
Für meine Interviewreihe „Mach’s weg“ habe ich Interviews aus verschiedensten Perspektiven über die Corona-Krise, den Graben zwischen “Alternativ-” und Schulmedizin, und über eines der wichtigsten Themen im Leben geführt: Gesundheit. Aber was ist das überhaupt? Lassen sich Krankheiten und ihre Symptome einfach „weg machen“? Wieso kümmern sich Menschen umeinander? Und wie sähe ein Gesundheitssystem aus, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt?
23 gesammelte Mach’s weg“-Interviews sind hier als Buch zu bestellen.
Laurens Dillmann: Was genau ist der Inhalt deiner Arbeit?
Yella Cremer: Ich nenne mich Sex-Forscherin und mache, mangels eines deutschen Wortes, Sex-Education. Sexuelle Bildung, überwiegend über Bücher, zum Teil über Workshops, Online-Kurse und Coaching. Eine Weile habe ich mich Sex-Expertin genannt, erst vor einer Woche hat jemand den Begriff Sex-Forscherin ins Spiel gebracht. Ich fand das noch angemessener, obwohl ich nicht wissenschaftlich arbeite. Im Grunde genommen forsche ich permanent, weil es gerade im Bereich Sexualität nichts gibt, von dem man sagen kann, es ist eindeutig und es bleibt für immer so.
Warum ist Sexualität dein Lebensthema und wie ist sie zu deinem Beruf geworden?
Ich habe einen bunten beruflichen Lebensweg. Durch Zufall bin ich auf Tantra-Massagen gestoßen, da habe ich die Spur aufgenommen. Diese Art von Körperarbeit, wo mein sexuelles Wesen wirklich existent sein darf, hat mich total fasziniert. Ich habe sofort selbst Tantra-Massage gelernt und damit in einer Praxis gearbeitet. Nebenberuflich zu meiner Projektarbeit mit Computern (lacht). Später habe ich eine eigene Praxis gegründet.
Über diese Körperarbeit bin ich in das Thema Sexualität eingestiegen. Weil es ungewöhnlich ist, dass Sexualität in einer Massage mit einfließen darf. Ich habe dabei sehr viel darüber gelernt, wie unterschiedlich Menschen ticken. Und über die Jahre habe ich gemerkt: Das Lehren macht mir am meisten Spaß. So habe ich angefangen zu lehren, über Vorträge und Einzel-Coachings. Irgendwann war klar: Ich weiß ein bisschen mehr als andere und das gebe ich weiter. Das war mein eigener Weg, über viele Fortbildungen. Ich habe aber keine spezifische Sexologie-Ausbildung, es ist einfach praktische Erfahrung. Ich bin über den IT-Bereich im Troubleshooting ausgebildet: Ich habe die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Und in meinem allerersten Leben war ich Sozialpädagogin, das heißt, die Arbeit mit Menschen in verschiedensten Gruppen ist mir vertraut.
Auf welche Werte berufst du dich?
Der tiefste Wert ist Wahrheit. Und Schönheit. Wenn Menschen zu dem stehen, was und wer sie sind, entsteht Schönheit. Es kommt darauf an, wertzuschätzen, was ich in mir als wahr empfinde. Von da aus entstehen Entfaltung, Schönheit, Vielfältigkeit. Und mir ist Authentizität wichtig, vor allem in der Kommunikation. Wenn ich lerne zu kommunizieren, wer ich wirklich bin, entsteht eine Verbindung mit anderen Menschen. Das ist auch ein wichtiger Wert.
Wie hängen Sexualität und Gesundheit zusammen?
Letztendlich gibt es keine Gesundheit ohne Sexualität. Damit meine ich Sexualität sehr weit gefasst. Ich gehe davon aus, dass Sexualität eine Kraft ist, die in uns lebt. Wir können uns auf verschiedene Arten und Weisen damit verbinden. Ob es eine sexuelle Begegnung mit einem Gegenüber ist, in der Selbstbefriedigung, oder auch in der Form, dass man bloß in dieser Energie meditiert und sie in sich selbst wahrnimmt. Man kann sie in sich aktivieren und als spirituelle Kraft nutzen.
Ich glaube, Menschen sind nur gesund, wenn sie mit sich im Einklang sind. Also brauche ich einen bewussten Umgang mit Sexualität. Gesellschaftlich wird es leider noch häufig als bloßer Trieb abgetan, und sich nicht darum gekümmert, bis der Trieb nach oben ploppt. Das fällt früher oder später allen auf die Füße. In Form von Stauung, Stress, Langeweile und Depression. Wenn ich mich mein ganzes Leben lang nicht dem Thema Sexualität widme, kann ich dauerhaft nicht gesund sein und bleiben.
Wieso gehört Sexualität zu einem gesunden Leben?
Es gibt in erster Linie ein Bedürfnis nach Berührung. Wir leben in einer Kultur, deren Problem die Berührungslosigkeit ist. Man schüttelt sich höchstens die Hände, und wenn man sich umarmt, dann zu kurz, um wirklich zu landen. Wir habe eine kulturelle Situation, die gegen uns spielt und wir müssen sie individuell lösen. Ich muss für mich selbst dafür sorgen, in einer Umgebung zu leben, in der ich genügend Körperkontakt bekomme.
Unsere Eltern haben oft nicht gelernt, uns genug Berührung zu geben. Die Fähigkeit, selbst danach zu fragen, sie sich zu „organisieren“, aber auch ein Stopp zu setzen, wenn man sie nicht mehr möchte, müssen viele Menschen im Nachhinein selbst lernen. Hier gibt es Trauma in beide Richtungen, zu wenig Berührung, oder zu viel Berührung, gegen die man sich nicht wehren konnte: “Jetzt musst du aber die Tante küssen” oder sich Knuddeleien gefallen lassen, die nicht angenehm sind.
Hier kommt wieder meine Idee von Forschung ins Spiel: Der Lösung auf die Spur kommen: Was brauche ich eigentlich? Und wie kann ich es kriegen? In meiner Erfahrung spielt die Umgebung eine riesige Rolle. Wenn man die Erfahrung macht, an einen Ort zu kommen, wo Menschen sich von alleine anfassen und kuscheln, verändert das etwas in einem. Genauso, wenn ich unter Menschen bin, die eine sexpositive Haltung haben und mich in meiner Lust feiern – egal mit wem ich die dann auslebe. Neben dem “Hauthunger”, dem Bedürfnis nach Berührung, ist es auch wichtig, Wege zu finden, die eigene Lust zu erleben. Wie auch immer diese Wege aussehen, denn das ist nach meiner Erfahrung sehr unterschiedlich und ändert sich im Laufe des Lebens. Ekstase ist wie der Hauthunger ein Grundbedürfnis.
Wie hast du dich selbst verändert, seitdem du forschst und lehrst?
Als erstes brauchte ich den Mut, mit meiner Arbeit sichtbar zu sein. Selbst die Arbeit im geschützten Rahmen in meiner Tantra-Massage-Praxis hat meinen Freundeskreis verändert. Ich wollte nicht mauscheln, mir kein Pseudonym zulegen, also wussten meine Freunde, was ich mache und nicht alle waren damit einverstanden.
Ich gehe durch persönliche Phasen, das reflektiert sich natürlich in meiner Arbeit. Das Schwierigste an meiner Arbeit ist, authentisch mit meinem eigenen Leben zu sein. Leute von außen projizieren lustig auf mich. Da gab es eine Frau in einer alternativen Frauengruppe, die meinen Namen hörte, mich von oben bis unten musterte und sagte: „Ich dachte, du wärst sexier.” Autsch. Mit diesen Projektionen entspannt zu sein, ist eine Aufgabe. Ich bin eigentlich eher introvertiert. Das passt gut zum Schreiben. In dem Moment, in dem ich damit nach draußen gehe, muss ich für mich wissen: Ich werde sichtbar – aber wahrscheinlich auch falsch verstanden. Weil es mir wichtig genug ist, gehe ich trotzdem nach draußen. Es hat Konsequenzen und das braucht Mut.
Ich bin radikaler geworden, indem ich sage, was ich denke, was funktioniert und was nicht. Über die Arbeit mit so vielen unterschiedlichen Menschen habe ich einen immer größer werdenden Erlaubnisraum kultiviert. Es gibt für mich im Bereich der Sexualität kein “So sollte es sein”. Meine Grundhaltung ist: Unterstützen, was sich für die Person harmonisch anfühlt. Dafür braucht es diese innere Erlaubnis und die habe ich viel im Kontakt mit meinen Klienten und Klientinnen gelernt.
Welche Rolle spielen die derzeitige Pornokultur und das Gefühl von Geborgensein in der Sexualität?
Es ist wichtig, dass wir als Mensch UND als sexuelles Wesen willkommen sind. Als Mensch mit unseren Fähigkeiten und Talenten und als Körper mit sexuellem Kern. Im konventionellen Sex – wie zum Beispiel in Pornos dargestellt – fehlt es oft an wirklicher Intimität. Sich begegnen und einander wirklich meinen, das ist der Schlüssel. Da geht es nicht um Techniken, sondern um die Frage, ob ich mich wirklich entspannen kann. Wenn ich meinem Partner in die Augen gucke, fühle ich mich dann willkommen? Kann ich ihm selbst im persönlichsten Moment des Orgasmus noch in die Augen gucken?
Das bedeutet alles, dass ich in meinem Körper zuhause bin. Pornos legen einem nahe, Sex im Kopf zu erleben und dann im echten Leben lediglich Bilder und Techniken zu wiederholen. Im Körper geht es aber um Wahrnehmung. Wie empfindest du die Berührung? Bis zu den kleinsten Details, wie ist die Hauttemperatur, die Feuchtigkeit? Kann ich mich dem Rhythmus anpassen? Um all diese Dinge zu fühlen, muss ich gut in meinem Körper verankert sein und wer zuerst viel Sex in seinem Kopf erlebt hat, findet es häufig gar nicht so einfach, den Körper zu fühlen. Man sieht das bei Tänzern sofort: Ob sie eine Technik anwenden, oder ob sie es mit Gefühl und im Fluss tun.
Was ist sexuelle Energie und wie vermittelt man dieses Prinzip?
Als erstes: Sexuelle Energie ist in uns, wir müssen sie nicht “kreieren” oder durch irgend etwas von Außen in unsere Leben bringen. Sie gehört dazu wie Atmen, nur dass wir sie meistens nicht bewusst wahrnehmen. Die Verbindung dazu kann ich durch Innehalten und mich Einfühlen herstellen. Obwohl Sex scheinbar auch ein guter Weg ist, sexuelle Energie zu erleben, fühlen viele Menschen bei schnellem Sex erstaunlich wenig sexuelle Energie: Zu viel passiert auf einmal. Daher ist oft die Verlangsamung ein Weg zu mehr Intensität.
Es braucht auch das Annähern in der Sprache. Viele Menschen finden überhaupt nicht die Worte, mit denen sie sich mitteilen könnten und sie haben keine Worte für Genitalien, mit denen sie sich wohl fühlen. Was ist der richtige Begriff für das, was du wahrnimmst? Mit „Energie“ können viele nichts anfangen. Aber fühlt es sich genährt an? Erfüllend? Das liegt vielen näher. Beruhigt sich etwas in dir? Wird etwas still? Geht etwas auf – dein Herz zum Beispiel? Frauen merken zum Beispiel, dass sich ihr Schoßraum entspannt. Eine Weitung. Hier auch der Forschungsansatz: Beschreibe einfach, was du wahrnimmst, ohne “gut” und “schlecht”, “richtig” und “falsch” zu verwenden. Und schaue, was mit deinem Gegenüber resoniert. Sprich, bis du merkst, du bist verstanden worden. Wir haben einen inneren Kompass, der uns sagt: Ich bin gelandet. Dem können wir folgen.
Was kann man tun, wenn es einem schwerfällt, sich hinzugeben und zu vertrauen?
Zwei Dinge fürs Erste-Hilfe-Kit: Das erste ist Atmen. Über den ruhigen, bewussten Atem kommst du runter. Du kannst dich selbst regulieren. Das zweite ist Co-Regulation. Wenn du ein Gegenüber hast, das ruhiger ist als du, hilft dir das, zu entspannen. Wenn du als Gegenüber den Raum hältst: Okay, ich bin weiter hier. Wie ist es? Erzähl mal. So wird sich das hochgefahrene Nervensystem dem Beruhigten wieder anpassen. Auch eine wichtige Übung für Partnerschaft. Wenn der andere sich plötzlich schlecht fühlt, musst du nicht der Grund sein. Es können alte traumatische Erfahrungen sein. Du kannst sogar helfen, die Situation zu regulieren.
Wie wird in Sexualtherapien mit Problemen umgegangen? Was sind deine eigenen Ansätze?
Der schulmedizinische Klassiker ist Viagra. Ein Riesenmarkt. Da wird eine Pille genommen, um ein Problem zu lösen, ohne die Geschichte dahinter anzugucken. Ich halte unser schulmedizinisches System für wichtig. Aber auch nur für einen Anteil des Ganzen. Es ist wunderbar, dass wir zum Beispiel Antibiotika und gut ausgebildete Chirurgen haben. Aber oft fehlt das Schauen auf den gesamten Menschen. Gerade im Bereich der Sexualität gibt es an sich kaum sinnvolle Ansätze in der Schulmedizin. Sexuelles Erleben oder Lust hat dort keinen Platz. Und ein Vermitteln der Erfahrung: Sex wird nicht immer supertoll sein. Auch nicht mit dem „richtigen“ Menschen. Ich vergleiche Sexualität gerne mit Essen. Nur weil ich gerne leckeres Essen esse, kann ich noch lange nicht kochen. Ich muss es erst lernen – z.B. mit Rezepten, Ausprobieren oder Tipps von anderen.
Sexualität ist auch eine Kulturleistung, deren Qualität ich verfeinern kann. Wenn ich immer nur triebgesteuert irgendetwas tue, geht die Qualität verloren. Das anzuerkennen, ist ein großer Schritt. Ich denke auch, unser Gesundheitssystem müsste weitergehen, als nur die Behandlung von Krankheit zu garantieren. Wenn ich nicht irgendwann im Krankenhaus landen will, brauche ich ein Bewusstsein, wie ich gesund lebe und bleibe. Bewegung an der frischen Luft ist tolle Prävention, wird aber nicht als Gesundheitsmaßnahme verschrieben. Für die Sexualität gilt das auch. Es wäre hilfreich, wenn das auch so kommuniziert würde. Damit könnte man vielen Zivilisationskrankheiten im Voraus präventiv begegnen.
Was ich als Frau auch immer wieder mitkriege: Wir werden angehalten, regelmäßig zum Gynäkologen zu gehen. Da wird der Körper aber immer unter dem Funktionsaspekt betrachtet. Gynäkologen wissen oft überhaupt nichts über weibliche Lust, aber viel über Reproduktion und Krankheit. Es ist ein Paradox, dass menschliche Lust in medizinischen Ausbildungen keine Rolle spielt. Da sieht man, dass unser Gesundheitssystem nicht dazu gemacht ist, Spaß zu haben. Wir lernen höchstens vom Kinderkriegen und der Menopause. Das ist ein wirklicher Missstand, den ich gerne behoben sehen würde.
Fantasiespiel: Du bist Königin deines Landes und kannst dir ein Gesundheitswesen erschaffen:
Zuerst mal ganz pragmatisch: Andere Wohnformen als unsere Kleinfamilien-Kästen. Das Leben in Gruppen und in Häusern, die Gemeinschaftsräume haben. Ich glaube, das wäre viel gesünder als diese oft auseinanderbrechenden Kleinfamilien. Dort findet man oft nicht genug Identifikationsfiguren, und die geschlossenen familiären Räume öffnen Türen für psychologischen und physischen Machtmissbrauch.
Im Bereich Sexualität braucht es viel mehr Bildung. Bei Mädchen ist ein Knackpunkt, dass sie in die Menarche, ihre erste Menstruation, rasseln und es in der Regel nicht positiv gewertet wird. Und sie denken „Jetzt habe ich diesen Fluch für die nächsten 40 Jahre!“ anstatt „Hey, Fruchtbarkeit. Toll!“. Nach meinem Empfinden gibt es Umbrüche im menschlichen Leben, für die einfach zu wenig Zeit ist. Wir brauchen Zeiten des Wandels. Mehr Zeit, als wir dafür zugestanden kriegen. Und wir brauchen Schulfächer für Berührung, Konsens-finden, Selbstwahrnehmung, Kommunikation, Glück, Selbstverantwortung. Außerdem brauchen wir ein Grundeinkommen – auch für Gesundheit. Dass ich leben kann, ohne etwas tun zu müssen, was mir nicht wirklich entspricht. Ich glaube, das hat sogar ein englischer Gesundheitsminister gesagt: „Die Leute werden auf jede erdenkliche Weise krank. Warum sollten wir verhindern, dass sie auf jede erdenkliche Weise gesund werden?“
Foto-Credit: Laurens Dillmann, David Nassim, Christopher Bennet
Großartige Aussagen, die ich voll unterstütze! Und möchte ergänzen: um gesund zu bleiben, müssen Organe (Prostata, Gebärmutter usw.) gut durchblutet werden. Und das geht am besten mit Sexualität, sei es Selbstbefriedigung oder mit einem anderen Menschen. Es werden gesund machende Hormone ausgeschüttet, zb ist Oxitocyn ein Antikrebs Hormon. Es wird u.a. im Schlaf und beim Kuscheln produziert. Und es hilft gegen depressive Verstimmungen.
Ich wünsche allen gute Berührungen! Lea
Danke Lea!
Danke für dieses berührende Interview! Yella wirkt auf mich (selbst in diesen paar Interview-Zeilen) sehr echt. Ihr(e) Beruf(ung) hat etwas mit ihr zu tun. Sie folgt ihrem Ruf und geht dabei gleichzeitig als Vorbild voraus. Als Frau und Mensch. Schön, dass es so etwas gibt! Das Gespräch inspiriert mich, hier für mich weiter zu forschen 🙂 Danke Laurens! Danke Yella!
Danke Isabel!