
„Mein Eindruck ist, dass wir uns in unserem Wohlstand dermaßen vergaloppiert haben, dass wir uns aktuell aussuchen können, ob uns unser Gemeinwesen zuerst wirtschaftlich oder durch geostrategische Konflikte um die Ohren fliegt. In 2025 sind in allen Gesellschaftsbereichen zu viele Menschen damit beschäftigt, sich entweder ins Private zurückzuziehen und den Kopf in den Sand zu stecken, oder eben innerhalb des Systems für sich das Beste herauszuholen. Egal, wo ich hingucke: Ich erlebe sehr wenig Gemeinsinn. Nicht, dass es den nicht mehr gibt, aber er ist so dünn geworden, dass unser gesellschaftliches System zu bröckeln beginnt. Es braucht mehr Leute, die Reissäcke aufheben!“
Ralf M. Ruthardt — Unternehmer, Autor & KI-Stratege
Ralf M. Ruthardt hat sich als Unternehmer viele Jahre mit Prozessautomatisierung und digitaler Transformation beschäftigt. Seit den 1990er-Jahren gründete er mehrere Unternehmen mit Lösungen zur Automatisierung von Geschäftsprozessen. Seine Arbeit umfasste unter anderem die Entwicklung von -Cloud-Lösungen, die Automatisierung kaufmännischer Abläufe sowie den Einsatz KI-gestützter Anwendungen.Neben seiner Unternehmerlaufbahn engagierte sich Ruthardt über 40 Jahre ehrenamtlich in Kirchengemeinden und unterstützt soziale Projekte in Afrika. Seit einigen Jahren ist er publizistisch tätig, unter anderem als Herausgeber des Magazins MITMENSCHENREDEN und unter anderem als Autor der Romane Das laute Schweigen des Max Grund und Untergang der GREEN. Ruthardt beschäftigt sich in seiner Arbeit mit Fragen gesellschaftlicher Verantwortung, unternehmerischer Gestaltungskraft und der Rolle individueller Haltungen im öffentlichen Diskurs.
www.ruthardt.de
Mach’s jetzt! Interviews mit Unternehmern, Aktivisten und Machern über ihr Ikigai – den Grund, morgens aufzustehen.
Meine neue Interviewreihe ist eine Antwort auf den gesellschaftlichen Stillstand, auf das Warten auf bessere Zeiten oder bessere Politiker. Sie zeigt auf: Es gibt Wege. Man muss sie nur gehen.
In einer Zeit, in der viele Menschen den Glauben an Politik, Institutionen und gesellschaftliche Steuerung verlieren, richte ich meine Fragen an die Gestalter. Menschen, die Verantwortung für ihr Leben und ihr Umfeld übernehmen, die Krisen als Chancen begreifen und aktiv an Lösungen arbeiten.
Was treibt Sie an? Was ist Ihr Ikigai, Ihr innerer Kompass? Was gibt Ihnen Kraft, morgens aufzustehen und ins Handeln zu kommen? Wie verwirklicht man seine Träume – pragmatisch, machbar, realistisch?
Dabei geht es nicht um klassische Erfolgsgeschichten oder Selbstoptimierungsfloskeln, sondern um ehrliche, persönliche Einblicke in Motivation, Lebenswege, Scheitern und Neuanfänge.
Das Gespräch wurde am 30. Juli 2025 online geführt.
Laurens Dillmann: Was ist Ihr Grund, morgens aufzustehen?
Ralf M. Ruthardt: An den meisten Tagen ist es die freudige Erwartung, ans Werk zu gehen. Also an etwas arbeiten zu dürfen, was auf der Agenda steht. Ich arbeite sehr gerne und habe Freude an dem, was ich tue. Manchmal ist es auch ein Pflichtgefühl, ein ausgemachter Termin, zu dem ich am Rechner sitzen muss. Meistens treiben mich aber Freude und die Gestaltungsmöglichkeiten an.
Was ist Ihre Arbeit?
Ralf M. Ruthardt: Da haben wir drei Bereiche: Bislang war ich ja mit meinen Unternehmen vor allem im Bereich der Prozessautomatisierung unterwegs. Ich durfte einige Unternehmen selbst gründen und neue technologische Innovationen auf den Markt bringen. In meinem Arbeitsumfeld gab es dazu in der Regel drei Teams: Ein Entwicklerteam, eines, das die Entwicklungen beim Kunden implementiert und den Vertrieb, der den Kunden nahe brachte, was wir überhaupt vorhaben und welche Mehrwerte er bekommt. Dieses Zusammenspiel an Menschen, Ideen und Umsetzung empfinde ich als eine sehr kreative Arbeit. Das ist für mich wie ein Bild zu malen oder ein Baumhaus zu bauen.
Der zweite Bereich hat eher etwas mit meinem kirchengemeindlichen Engagement der vergangenen 40 Jahre zu tun. Da geht es um die direkte Mensch-zu-Mensch-Interaktion. Dabei trifft man auf ein Sammelsurium an Sorgen, aber auch auf das Potenzial, damit umzugehen und etwas Erfreuliches daraus zu machen. Diese Sorgen zu bewältigen, helfen, neue Quellen der Freude zu identifizieren und daraus Kraft zu schöpfen. Über allem steht für mich die Liebe Gottes. Das ist ein universeller Begriff, in den ich mich fallen lassen kann, wo ich mich bei etwas Allmächtigem zu Hause fühlen darf. Aktuell ist der dritte Bereich so etwas wie mein Lebensmotto: “Mit Menschen reden.” Ich stelle mich gesellschaftspolitischen Themen im Sinne meines gleichnamigen Magazins oder den Büchern, die ich schreibe. Das ist sehr spannend, weil ich dabei ganz viel dazu lerne und auf inspirierende Menschen treffe.
Gab es eine Art Startschuss, einen Moment, an den Sie sich erinnern können, an dem Sie Ihr Leben in die eigene Hand genommen haben?
Ralf M. Ruthardt: Ich habe meinem Hauptschullehrer sehr viel zu verdanken. Er hat es geschafft, uns Kindern das vielseitige Leben nahezubringen und den Fakt, dass wir uns mittendrin befinden. Im Geschichtsunterricht hat er uns den Fenstersturz in Prag so lebendig geschildert, dass sich die Erinnerung daran anfühlt, als ob wir dabei gewesen wären. Oder seine Reiseberichte, die er uns im Erdkundeunterricht vorgetragen hat. In seinen Erzählungen hat er uns Kids auf die Philippinen mitgenommen und uns dort in den Tropen in einen Einbaum gesetzt, um das Land zu erforschen. Er hat uns vermittelt, dass wir als “einfache” Hauptschüler zu so vielem fähig sind. Wir haben zum Beispiel ein Theaterstück von 60 Minuten in schwäbischer Mundart aufgeführt. Da sind wir als Klassengemeinschaft über uns hinausgewachsen. Ich könnte das Stück heute immer noch nahezu auswendig vortragen. Damals mag ich so 14 Jahre alt gewesen sein.
Das war die erste wirkmächtige Begegnung mit einem Menschen, der mir ganz persönlich etwas zugetraut und mir ein „Hallo wach!“ zugerufen hat.

Gab es noch andere Menschen, die Sie auf Ihrem Weg geprägt oder unterstützt haben?
Ralf M. Ruthardt: Das war geradezu eine Serie. Nur ein paar Beispiele: Ich habe damals bei HEWLETT-PACKARD eine Ausbildung gemacht und dort etwas gelernt, das sich bis heute fortsetzt: Jemandem eine Verantwortung zu übertragen, bedeutet auch, Gestaltungsspielraum (Kompetenz) zu geben.
Für mich war es damals ein Paradies. Als Auszubildender hast du dann deine eigenen Projekte gehabt. Damals ging es beispielsweise um die erste Digitalisierung im Sinne digitaler Archive – das war damals ganz neu, heute würde man darüber lächeln. Da hat es geheißen: Hier ist dein Geschäftswagen, hier die Liste deiner Ansprechpartner, dort dein Notebook – und jetzt hast du drei Monate Zeit: Mach was draus! Dann habe ich als junger Mann daran gearbeitet und es war ein Erfolg. Das hat mir natürlich viel Selbstbewusstsein gegeben. Ich wurde dort auf Augenhöhe behandelt, obwohl ich damals gerade mal 18 Jahre alt war.
Als ich mich dann selbstständig machte, hatte ich einen erfahrenen und mir wohlgesonnenen Geschäftspartner. Der hat mir meinen selbst entworfenen Briefbogen mit den Worten zerrissen: “Das sieht nach gar nichts aus. Mach es richtig oder lass es bleiben.” Da saß ich da, mit meinem mageren 400 D-Mark Startkapital, musste neugestaltete Briefbögen drucken – und nach einem Jahr hatte ich eine Million D-Mark Auftragseingang in den Büchern stehen. Einen wesentlichen Teil meines Erfolgs habe ich diesem Geschäftspartner und seiner ehrlichen Rückmeldung zu verdanken. Es ist wirklich ein Segen, eine große Hilfe und Bereicherung, wenn einem im Leben Menschen begegnen, die einen guten Willen haben. Dafür bin ich sehr dankbar.
Würden Sie sagen, so eine Unterstützung ist wesentlich – oder kann ich, was ich mir vornehme, auch alleine und mit reiner Willenskraft bewerkstelligen?
Ralf M. Ruthardt: Die Frage ist, wo die Willenskraft herkommt. Wir können bei beruflich erfolgreichen Menschen sehen, dass – neben persönlichen Eigenschaften, wie Extrovertiertheit, Erfolgsstreben, Selbstbewusstsein – das soziale Umfeld immens prägend für die persönliche und berufliche Entwicklung ist.
Ich bin mir jedenfalls sicher, wir brauchen den Anderen: Ein inspirierendes Gegenüber, das einen auch mal operativ an die Hand nimmt und ein Stück des Lebenswegs begleitet, bis man eine gewisse Selbstständigkeit erreicht hat. Später kann man dann wiederum selbst jemand sein, der anderen mit gutem Willen, frischen Ideen und Ehrlichkeit begegnet und eine ausgestreckte Hand reicht. Man sollte dabei ergebnisoffen bleiben, ob der andere die Hand ergreift.
Sicher hat einen starken Einfluss auf Erfolg auch, mit wie viel Angst Menschen durchs Leben gehen und wodurch sie in ihren Ausdrucksmöglichkeit begrenzt sind. Das kann natürlich auch negativ von anderen Menschen eingetrichtert werden. So viele haben Ängste: Angst vor der Armut, vor dem Scheitern, vor dem Sterben. Ich kann das nur schwer nachvollziehen. Mir geht es nicht so.
Ihnen scheint es insgesamt sehr um Ihre Mitmenschen und um Menschlichkeit insgesamt zu gehen.
Ralf M. Ruthardt: Wir unterliegen im Kapitalismus natürlich der Gefahr, dass wir unseren Nächsten und uns schlussendlich als Produktivitätsfaktoren und Konsumenten sehen. Aber Menschsein ist viel mehr, als nur diesen Parametern gerecht zu werden. Natürlich hat das Materielle seinen Platz und seine Wichtigkeit. Aber zunächst zählen die wesentlichen Fragen, die man sich stellen darf: Was habe ich als Lebensziel? Was macht mich in meiner Persönlichkeit aus? Manche definieren ihr Selbstwertgefühl oder gar ihre Identität nur über diese äußeren Statussymbole wie ein tolles Auto oder eine große Wohnung. Aber ich glaube, eine viel stärkere und mächtigere Definition kann darin liegen, was man selber in der Lage ist, an Werten zu schöpfen. Und zwar nicht nur für sich selbst, sondern für seine Community, für die Gesellschaft als solches.
Was sind wesentliche Fähigkeiten, die man braucht, um Projekte umzusetzen, um in die Tatkraft und Umsetzung zu kommen?
Ralf M. Ruthardt: Aus meiner Sicht sind es exakt vier Dinge. Die Selbstreflexion nenne ich bewusst als Erstes, weil es immer hilfreich ist, sich ein Stück weit in Frage zu stellen. Wenn etwas nicht funktioniert, wie du es willst, dann fang mit der Ursachenforschung erstmal bei dir selbst an. Das Zweite ist ein übergeordnetes Ziel: Eine Antwort auf die Frage, was möchte ich eigentlich erreichen? Die Wörter Vision und Mission kommen gerne so marketingmäßig oder pathetisch daher, aber das braucht es gar nicht zu sein. Zum Beispiel gehen Menschen, für die ein wichtiger Parameter ist, dass sie sich in einer Gemeinschaft wohlfühlen und engagieren, in den Fußballverein oder in den Betriebsrat. Oder es sind in der Familie diejenigen, die dafür sorgen, dass Jung und Alt zusammenkommen. Da werden Termine koordiniert, Einladungen ausgesprochen und den Veranstaltungen Herz und Sinn gegeben.
Das Dritte ist: Innovation, Ideen und kreative Kraft. Das Streben nach etwas Neuem. Nicht im Sinne von noch ein paar Schuhen oder ein neues Poloshirt im Schrank, sondern neu im Sinne von: So noch nicht erlebt. Es ist total cool, was wir als Menschen alles hinkriegen! Ich komme aus einer Zeit, da hatte ein Telefon noch eine Schnur und eine Wählscheibe.
Viertens glaube ich, dass es uns als Menschen guttut, wenn wir uns in einen größeren Kontext einordnen. Wenn wir unser Bewusstsein dafür schärfen, dass wir eigentlich nur eine Ameise in einem Ameisenhaufen sind. Über den Hektar hinaus, den wir überblicken, gibt es noch so viel mehr, von dem wir keinen Schimmer haben. Das macht uns demütig.
Also, lass es zusätzlich noch etwas Großes geben, das mich als kleinen Menschen lieb hat und okay findet. Wo ich mich mal ausheulen kann. Das geht natürlich auch mit anderen Menschen, was schön ist, aber ich spreche von einem inneren Momentum; von etwas Allmächtigem. Kein Diktator, sondern eine liebende Größe, in die ich mich auch als Erwachsener immer wieder für Momente fallen lassen kann. Das sind Zeiträume, wo ich – gleich einer Meditation – zur inneren Ruhe komme. Ich erlebe das im sakralen Kontext im Gottesdienst. Was für mich Kirchenmusik ist, kann für andere vielleicht der Sport oder der Hip-Hop sein.
Können Sie es konkreter beschreiben: Wenn Sie ein Projekt umsetzen: Welchen Plan machen Sie sich? Wie gehen Sie vor?
Ralf M. Ruthardt: Wenn wir auf meine Neugründungen von Unternehmen blicken, geht das eigentlich immer den gleichen Weg. Mir kommen innovative Ideen – das kann des Nachts oder beim Duschen sein. Dann setze ich mich an den Rechner, fasse Konzepte und überlege, zu welchen Mehrwerten meine Ideen führen können. Dann baue ich mir ein Team von Leuten auf, die all das können, was ich nicht kann und das ist ziemlich viel. Dort arbeite ich nach den vorher genannten Prinzipien: Verantwortung in Verbindung mit Kompetenz. Ich bin nicht derjenige, der sagt: Genau so muss es werden! Dann bräuchte ich den Anderen ja gar nicht fragen. Es geht darum, miteinander etwas Relevantes zu schaffen.
Es geht mir in meiner Arbeit darum, Menschen um mich zu scharen, die bereit sind, meine Vision zu teilen. Das Team muss Interesse, Motivation und Freude am Schöpferischen haben. Dadurch kommt ein Spirit zustande, in dem es sich sehr gut arbeiten lässt. Und dann versuche ich, als Gleicher unter Gleichen zu agieren. Ich habe über viele Jahre nie einen eigenen Schreibtisch gehabt. Ich setzte mich dorthin, wo gerade Platz war und eine Zusammenarbeit anstand.
Und dann geht es um die besagte Selbstreflexion – sich selbst in Frage stellen. Nicht im Sinne eines nagenden Selbstzweifels. Ist das, was wir tun, wertschöpfend? Wo haben wir Fehlerquellen? Was sind die Features, die so nicht funktionieren können oder beim Kunden keinen Anklang finden? So gibt es auch manchmal einen Seit- oder Rückwärtsschritt, – aber schlussendlich findet eine innovative Idee ihren Weg in die Umsetzung. Für diese Art von Arbeit braucht es Menschen im Team, die eine mentale Kraft haben. Menschen, die nach vorne drängen und nicht einfach nur etwas abarbeiten wollen. Und jene, die in der Lage sind, einen solchen Spirit zu verstärken. Soziologisch betrachtet, brauche ich also eher Leader als Mitläufer. Deswegen sind Leute aus meinen damaligen Teams zwischenzeitlich in anderen Kontexten Verantwortungsträger oder in leitender Funktion.
Eine meiner Restriktionen führt dazu, dass ich mehr als etwa 50 Leute als Geschäftsführer nicht mehr führen kann. Ich gebe dann viel ab. Ich fühle mich vor allem zuständig für das Generieren dieser Innovationen, an der wir dann als Team arbeiten.
Welche Auswirkungen hat Ihre Arbeit? Welche gesellschaftliche Verantwortung verspüren Sie als Unternehmer?
Ralf M. Ruthardt: Lassen Sie mich das an drei Beispielen festmachen. Ich komme aus der Prozessautomatisierung; vor allem im kaufmännischen Kontext. Viele meiner Ideen werden heute noch in den Unternehmen so praktiziert. Das mag arrogant klingen, aber wenn sie heute eine Überweisung für eine Reparaturrechnung an ihrem Auto tätigen und im Autohaus keiner mehr sitzen muss, um die Überweisung händisch zu buchen, dann hat das am langen Ende auch irgendetwas mit mir zu tun. Um das Jahr 1994 war es meine erste Innovation: die automatische Kontoauszugsbuchung. Voilà, diese sichtbare Wirksamkeit gibt mir eine große Zufriedenheit.
Außerdem durfte ich mich in humanitären Projekten in Afrika einbringen. Zu erleben, wie es den Menschen vor Ort wirklich hilft, macht mich dankbar.
Das dritte ist noch ein recht junges Thema. Ich bin der Typ der losflitzt, wenn irgendwo ein Reissack umfällt. Und aktuell sind in Deutschland viele Reissäcke umgefallen. Wir sind in einer weitgehend polarisierten Gesellschaft angelangt. Wir haben viele Leute in Positionen, wo sie eigentlich die Chance auf eine hohe Wirksamkeit haben, sich aber – verdammt noch mal – vor allem um sich selber kümmern. Sie sind ihr eigener homo oeconomicus. Ihr Wirken nach außen ist oft nur noch Show.
Ich sehe ähnliche Probleme bei den Kirchen, den NGOs und in vielen Institutionen: Da sind Menschen, die zum Dienst an der Gemeinschaft berufen sind. Sie haben sich in ein Parlament wählen lassen. Sie bekleiden ein Regierungs- oder ein öffentliches Amt. Und doch lassen sie die Ehrlichkeit vermissen. Sich als Beamter tatsächlich als Staatsdiener zu verstehen, ist zu oft von der opportunistischen Haltung abgelöst worden: Man nimmt mit, was man mitnehmen kann. Und das womöglich mit dem plumpen Argument, Andere würden es auch tun.
Mein Eindruck ist, dass wir uns in unserem Wohlstand dermaßen vergaloppiert haben, dass wir uns aktuell aussuchen können, ob uns unser Gemeinwesen zuerst wirtschaftlich oder durch geostrategische Konflikte um die Ohren fliegt. In 2025 sind in allen Gesellschaftsbereichen zu viele Menschen damit beschäftigt, sich entweder ins Private zurückzuziehen und den Kopf in den Sand zu stecken, oder eben innerhalb des Systems für sich das Beste herauszuholen. Egal, wo ich hingucke: Ich erlebe sehr wenig Gemeinsinn. Nicht, dass es den nicht mehr gibt, aber er ist so dünn geworden, dass unser gesellschaftliches System zu bröckeln beginnt. – Es braucht mehr Leute, die Reissäcke aufheben!

Was ist Ihr Blick auf Deutschland? Was macht Ihnen Sorgen und was gibt Ihnen Hoffnung?
Ralf M. Ruthardt: Wer meinen Roman „Das laute Schweigen des Max Grund“ gelesen hat, der merkt, wie unsicher ich mir bei der Analyse unserer gesellschaftspolitischen Situation bin. Es gibt definitiv beunruhigende Tendenzen und diverse Schieflagen, aber ich finde auch immer wieder Argumente, die das Vorherige widerlegen und halte mich ungern an der Formulierung fixer Statements auf. Alleine die Fähigkeit zur Hoffnung macht mir Hoffnung. Weil daraus Kraft, Engagement und Tatkraft abgerufen werden können. Jetzt ist nur die Frage: Woher soll diese Hoffnung kommen? Früher kam sie in der Regel aus einem religiösen Kontext, aber dieser ist nicht mehr besonders populär.
Ich glaube, dass wir heute die Chance haben, rational viel zu erfassen – auch über das, was aktuell gesellschaftlich, psychologisch und soziologisch passiert. Aber natürlich sind wir auch ständig von Medien umgeben, die uns mit Narrativen und den Methoden des Framings beschallen. Auffällig ist, dass ein Abweichen von einem eher linken Meinungsbild reflexhaft mit Kampfbegriffen wie „Rechtsextrem“ belegt, bzw. man damit gebrandmarkt wird, man würde sich dem „Engagement gegen Rechts“ verweigern.
Als Gesellschaft müssen wir uns von diesem pauschalierten “Bullshit” frei machen. Es geht darum, dass wir uns unseres eigenen Einflusses und der Macht unserer Worte und Taten wieder bewusst werden. Wir lassen uns das Leben von Leuten vorschreiben, die im Leben selber nur wenig hinbekommen oder nie wirklich an den “Werkbänken” gestanden haben.
Wir sollten uns an den Menschen orientieren, die im Leben etwas Konstruktives hinbekommen haben! Aber wo sind die im Diskurs? Die wenigsten wollen sich kritisch positionieren, stattdessen hissen sie bunte Flaggen, gendern in den Betriebsvereinbarungen und geben sich angepasst. Aber führt uns das als Gesellschaft wirklich voran? Ich bezweifle es. Wir verschließen uns mit vollen Bäuchen der Vernunft, der Logik und den Argumenten.
Deswegen plädiere ich: Wir sollten einander mehr wohlgesonnen sein. Wir sollten mehr aufeinander zugehen und den anderen verstehen wollen. Wir dürfen den Perspektivenwechsel als Lösungsansatz begreifen.
Wir sind zu sehr an den Polen unterwegs – Recht zu haben und auf die andere Seite rüber zu brüllen. Aber so funktioniert Gemeinwesen nicht.
Die Politik wird uns dort offensichtlich nicht herausführen können. Die Medien vielleicht schon, aber erst dann, wenn andere Menschen in den Redaktionsstuben sitzen. Momentan schaut man zu sehr darauf, wie hoch die Einschaltquoten, die Klicks oder der Umsatz sind. Das führt nicht zu einem fruchtbaren Diskurs. Diese Dynamik der unvernünftigen Narrative, die das eigene, unabhängige Denken und einen gesellschaftlichen Zusammenhalt behindern, wird durch die Massenmedien verstärkt. Wenn wir das als Gesellschaft begriffen haben, dann kann es auch wieder vorwärts gehen. Durch das Schaffen realer Werte. Das meine ich nicht nur materiell, sondern auch im Sinne eines wohlwollenden Gemeinschaftsgefühls. Wir können uns wieder auf das Gemeinwesen besinnen. Dass das funktionieren kann, hat sich vor allem in der Nachkriegsentwicklung schon mal gezeigt. Bei all den Rückschlägen, die es im Leben nun mal gibt, können wir aufeinander zugehen und gemeinsam etwas aufbauen. Also, das kriegen wir als Menschen schon hin, wenn wir denn wollen.
Welche „unvernünftigen Narrative“ meinen Sie konkret?
Ralf M. Ruthardt: Gehen wir beispielsweise in eine Talkshow. Dort könnte diese Frage aufgeworfen werden: „Sie wollen doch nicht, dass jemand im Mittelmeer ertrinkt!“ Das stimmt. Ruthardt möchte nicht, dass jemand im Mittelmeer ertrinkt. Aber ich bin auch nicht für jeden zuständig, der sich über das Mittelmeer auf den Weg nach Europa macht. Für so eine Aussage können Sie heute in Deutschland verbal geköpft werden. Aber der Satz ist per se – Widerspruch ist willkommen – vernünftig. Weil es tatsächlich so ist, dass ich mit meinen Handlungsmöglichkeiten nicht für jedes erdenkliche Einzelschicksal zuständig sein kann. Dafür gibt es einfach zu viele davon. Die Frage ist doch stattdessen, welche Kraft, welche Potenziale und Möglichkeiten habe ich, um anderen Menschen eine Hilfe zu sein?
Ich erlebe aber, dass die, die große Aufforderungen aussprechen, oft nicht in der Economy fliegen, sondern in der Business-Class. Der alte Sinnspruch: Wasser predigen, Wein trinken.
Ein zweites bedenkliches Beispiel: Wir reden so viel von gesellschaftlichem Engagement und von Solidarität. Bei genauerer Betrachtung individualisieren wir uns doch sehr und vereinsamen immer mehr. Wir und unser Smartphone. Das Erleben von etwas Kollektivem wird über die Eintrittskarte für 78 € bei einem Konzert ausgelagert. Das mit den Nachbarn auf der Garageneinfahrt sitzen und den Kindern beim Spielen zuzuschauen – dieses alltägliche Gemeinsame – geht immer mehr verloren.
In meiner Kindheit war es so: Wenn es dem Nachbarn Hans, der einen Stall voll Hasen hatte, ins frisch gemähte Heu reingeregnet hat, dann haben wir Kinder die Heugabeln geholt und sein Heu ins Trockene gebracht. Der Hans konnte in der Schicht beim Daimler sein und wusste, es würde sich jemand kümmern. Da musste keiner etwas sagen. Das ist von alleine gelaufen und wurde von uns Kindern nachgeahmt, weil es die Erwachsenen vorgelebt haben: Ein Wir-Gefühl. Heutzutage hat man Schwierigkeiten, so etwas noch zu erleben, weil vieles delegiert wurde. Für dieses und jenes ist dann entweder das Rathaus, das Amt, der Politiker oder die Kirche zuständig – aber wo bin ich als Einzelner? Wo ist der Platz für Engagement in meinem Lebensalltag?
Worum geht es Ihnen heute im Leben? Haben sich Ihre Werte im Laufe Ihrer Karriere verändert?
Ralf M. Ruthardt: Es gab bei mir natürlich auch die Phase, als ich total stolz war, dass ich einen fetten 7er BMW vor der Haustür stehen hatte. Als einfaches Arbeiterkind ist das natürlich eine Verführung. Ich will jetzt gar nicht über meine Eitelkeiten reden, die mein soziales Umfeld früher zu spüren bekommen hat. Wir sind ja als Menschen in einer Entwicklung und sollten uns ihr auch stellen. Deswegen ist es gut, wenn man ein Korrektiv hat. Für mich ist das unter anderem mein Glaube. Ich finde Jesus hat so etwas nahbares. Ja, die Berichte und Gleichnisse in den Evangelien sind aus einer anderen Zeit. Und trotzdem: darin liegt so viel Ermahnung und Ermutigung, was einen positiven Einfluss auf uns Menschen haben kann.Etwas, das ich wirklich lernen musste: In mir steckt ja so ein halber “Kommunist”. Na ja, heute vielleicht noch ein Zehntel von einem “Kommunisten”. Wo Menschen aus eigener Tatkraft oder durch ein Erbe zu hohem Vermögen gekommen und nicht bereit sind, davon der Gesellschaft anteilig wieder etwas zur Verfügung zu stellen – da habe ich echt den kleinen Enteigner in mir. Weil ich denke: Leute, wo ist der Funken Demut? Nun, auf der anderen Seite habe ich mittlerweile viel mehr Sorge vor Menschen, die nichts hingekriegt haben, die Umverteilung predigen und selber gerne davon partizipieren wollen. Ja, das bringt halt ein Gemeinwesen nun mal so gar nicht voran. Der Sozialismus hat wirklich um den Globus herum bewiesen, dass er am Ende den Leuten nicht mehr Wohl ins Leben bringt, sondern mehr Weh.
Zurück zu meinen Lernkurven. Als ich so Anfang 40 war, habe ich für mich zum ersten Mal realisiert, wie schön eine gewisse Genügsamkeit sein kann. Irgendwann ist auch mal genug. Es muss Materielles nicht ständig vermehrt werden. Ein größeres Haus und ein Boot und so weiter. Macht das wirklich immer Sinn? Wozu mir all diese Belanglosigkeiten anschauen, wenn ich den Fernseher anschalte? Wäre es nicht schöner, stattdessen unter einem blühenden Apfelbaum zu liegen? Genügsamkeit und Demut. Sich nicht noch mehr abverlangen, als das, wozu man im Stande ist. Es führt am Ende zu einer großen Zufriedenheit. Diese kann einen dann auch heil durch Lebenskrisen bringen. Nicht unbeschadet, aber im Sinne davon, dass die Seele heil bleibt.
Was würden Sie einem Menschen raten, der den ersten Schritt noch vor sich hat?
Ralf M. Ruthardt: Besinne dich auf deine Stärken und hole dir Freunde für das, was du nicht kannst, aber was es auch zu tun gilt. Leistung besteht nicht darin, den Medicis des 14. Jahrhunderts oder heutzutage einem Elon Musk nachzueifern. Es geht um das Erkennen, woran man seine Freude hat und wie sich diese Freude teilen lässt. Das kann auch die Kunst oder ein sozialer Beruf sein. Einfach etwas, das einen antreibt und anderen keinen Schaden bringt. Das muss nicht immer zu großem Entgelt oder Vermögen führen. Es muss nicht immer etwas sein, das die Eitelkeit befriedigt. Denn, wenn es einem wirklich Freude macht, wird es auch anderen Menschen auffallen. Und: Ich finde es wichtig, regelmäßig Gespräche wie diese zu führen. Das führt bestenfalls zu neuen Perspektiven.
Foto-Credit: Ralf Ruthardt