„Was ist gesund? Aus der Sicht eines Kindes heißt das: Funktionieren innerhalb der bekannten Umgebungen und Schemata. Das wird in der Medizin ja auch in etwa so gehandhabt: Du giltst dann als gesund, wenn du so funktionierst, wie das im allgemeinen sozialen Common als Norm definiert ist. Aber ein wirklich erwachsener Mensch richtet sich nicht an äußeren Normen aus, weil er seinen Referenzpunkt in sich selbst trägt.“
Philipp Alsleben
Studium Psychologie, Grundausbildung Bodynamic Körperpsychotherapie, Heilpraktiker für Psychotherapie, Entwicklung einer eigenen Systematik für Therapie und Bewusstseinsentwicklung unter dem Namen „Catlike“, Gruppenangebote und Ausbildung für Prozessbegleiter: www.catlike.de
Für meine Interviewreihe „Mach’s weg“ habe ich Interviews aus verschiedensten Perspektiven über die Corona-Krise, den Graben zwischen “Alternativ-” und Schulmedizin, und über eines der wichtigsten Themen im Leben geführt: Gesundheit. Aber was ist das überhaupt? Lassen sich Krankheiten und ihre Symptome einfach „weg machen“? Wieso kümmern sich Menschen umeinander? Und wie sähe ein Gesundheitssystem aus, das diesen Namen auch verdient hat?
Gesammelte Interviews aus „Mach’s weg“ erscheinen als Buch am 28.4.25 über Etica Media (Bestell-Link folgt).
Das Interview wurde im Dezember 2024 in Ettenheim geführt
Laurens Dillmann: Was tust du in deiner Arbeit?
Philipp Alsleben: Ich helfe Menschen, erwachsen zu werden. Das heißt, zunächst helfe ich ihnen, überhaupt erstmal dieses Anliegen wahrzunehmen, erwachsen werden zu wollen. Menschen kommen anfangs meist mit Störungen, Problemen, Konflikten, Schwierigkeiten, Hürden, Hindernissen und Unzufriedenheiten. Mein Job besteht zunächst darin, sie darauf aufmerksam zu machen, dass die Symptome, mit denen sie kommen, auf eine sehr grundsätzliche Unstimmigkeit in ihrem Leben hinweisen und bloße Oberflächenkräuselungen sein könnten. Gemeint sind ein tiefliegender Selbstbetrug, eine grundsätzliche Verirrung im eigenen Leben und ein Mangel an Mündigkeit und Selbstbestimmung, die sich durch zunehmende Symptome und Unzufriedenheiten bemerkbar machen, ihnen aber kaum oder gar nicht bewusst sind.
Das ist der erste Schritt. Er besteht darin, sich der eigenen Haltung und Reife dem Leben gegenüber existenziell bewusst zu werden. Und sich dann in vollem Umfang der Frage zu stellen, wie man stattdessen sein könnte und eigentlich sein wollte. So eine Konfrontation kann ein paar Jahre dauern, bis ein ernster Veränderungs- und Entwicklungs-Wille entsteht. Es geht dann nicht mehr darum, Symptome weg zu machen oder Konflikte zu beseitigen, um dann wieder gemäß der bisherigen Maßstäbe und Normen zu funktionieren, sondern genau diese zu hinterfragen, um dann neue Fragen danach zu stellen, was wir wirklich im Leben wollen und suchen und was uns erfüllt und Sinn gibt.
Die Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach dem eigenen Selbst, nach Wahrheit und Authentizität, nach Einzigartigkeit, nach vollständigem Erwachsenwerden – das sind alles Fragen, die die meisten Menschen in unserer Gesellschaft in ihrer Teenagerzeit einmal ansatzweise gestellt haben, um sie dann für den Rest ihres Lebens vollständig aufzugeben. Wer sich diese Fragen nicht stellt, kann aber nicht wirklich erwachsen werden und übernimmt lediglich die schematischen Vorstellungen und Vorgaben seines sozialen Umfeldes und der Gesellschaft. Dieses Mitmachen beim So-tun-als-ob mag den äußeren Anschein von Erwachsensein erzeugen und die meisten begnügen sich gezwungenermaßen damit. Sie entfernen sich dabei jedoch in ihren Vorstellungen und Entscheidungen immer weiter von sich selbst und sinken in die chronische Unzufriedenheit hinab, ohne sich je zu fragen, woran das liegt.
Erst wenn wir diese Fragen mit voller Ernsthaftigkeit stellen, kann der eigentliche Prozess des Erwachsenwerdens beginnen, und der besteht letztlich darin, an diesen Fragen mental und emotional zu wachsen, um über sie hinauszukommen. Es geht nicht um bestimmte Antworten, sondern darum, durch diese Fragen das eigenständige Denken zu initiieren, aus dem Zustand des Glaubens und Nachplapperns heraus zu wachsen – ihm zu entwachsen.
Woher kommt deine Fähigkeit, das so klar zu sehen und zu benennen?
Woran erkennt einer, der Abitur hat, einen Grundschüler? Wenn du die Pubertät hinter dir hast, ist das offensichtlich – aus dem Zustand des Erwachsenseins. Wenn das keine reine Theorie mehr ist, kein bloßes Konzept mehr, sondern eigene Erfahrung und Wissen, dann beginnt man sich an universell gültigen Prinzipien und Naturgesetzen auszurichten, die man im Bewusstseinszustand des Erwachsenseins unmittelbar wahrnehmen kann, so wie man sich als Kleinkind beim Laufenlernen an der Schwerkraft ausgerichtet hat.
Zum Beispiel gibt es das Gesetz der vorausgehenden Investition: Man bekommt etwas Neues oder Besseres nur in dem Maße, in dem man dafür im Voraus investiert, einen Einsatz gebracht oder sich angestrengt, also etwas von sich gegeben hat. Wenn man etwas ohne Vorleistung zu bekommen versucht, dann bekommt man etwas Minderwertiges, das man im Nachgang teuer bezahlen muss. Man wird quasi betrogen. Was man sich nicht erkämpft oder erarbeitet hat, das besitzt man psychisch nicht wirklich, das kann man sich nicht zu eigen machen. Es führt nicht zu einer echten inneren Veränderung oder Entwicklung, sondern in den Verfall. Die Missachtung dieses Prinzips ist der Hauptfaktor für die unermessliche Menge an Leid und Drangsal, die für die Menschen normal ist.
Was ist Erwachsenwerden?
Zunächst einmal ein Schritt des Aussteigens. Aussteigen aus den Schemata, den Anforderungen und Anpassungen an das, was uns innerhalb der Kontexte, in denen wir leben, vorgegeben wird. Die meisten Menschen haben gelernt, Erwachsensein als soziale Ein- und Anpassung zu betrachten. Sie benutzen gewisse Schablonenbegriffe wie Selbstbestimmung, Souveränität, Selbstvertrauen, Selbstwertschätzung usw. Wir beginnen diese Begriffe aber erst dann wirklich zu verstehen, wenn wir psychisch voll erwachsen und mental eigenständig sind. Es geht nicht darum, sich diese oder jene Fähigkeit anzueignen, die einen dann erwachsen macht. Es ist genau umgekehrt: Wenn du erwachsen wirst, sind diese Eigenschaften und Fähigkeiten im Paket inbegriffen – du bekommst sie automatisch dazu.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel Verantwortungsfähigkeit. Für die kindliche Psyche ist der Begriff „Verantwortung“ voller Ambivalenzen und Widersprüche. Sie kann nur als eine Mischung aus persönlicher Identifikation, Pflichtgefühl und sozialen Schuldigkeiten verstanden werden. Aber Verantwortung ist etwas ganz anderes. Sie bezeichnet den Zustand der Antwort-Fähigkeit im Gegensatz zur reinen Reaktivität oder mechanischen Anwendung von Schemata und Gewohnheiten. Das ist ein anderer Bewusstseinszustand, in dem man sich seiner selbst als Handelnder und Denkender bewusst ist, inklusive absehbarer Folgen und Bezüge zur inneren Werteordnung. Ein anderes Beispiel ist der „freie Wille“. Die Leute diskutieren seit Jahrhunderten darüber, ob es freien Willen gibt oder nicht. Die so schwer findbare Antwort könnte jedoch simpel sein: Für ein Kind nicht, für einen Erwachsenen schon.
Bedeutet Erwachsensein, Ja zur Unbequemlichkeit zu sagen?
Es bedeutet ein Ja zu allem, was als wirklich und real erkannt wird. Wenn du nach Hause kommst und dein Kühlschrank kaputt ist, ist es sinnlos, das zu verneinen oder mit emotionalen Ausbrüchen zu überlagern. Dein Kühlschrank ist kaputt. Ein reifer Erwachsener sieht die Dinge wie sie sind und nimmt ihnen als Realitäten gegenüber eine Haltung von Zustimmung und Bejahung ein – das gilt in erster Linie für ihn selbst. Etwas Reales auszuschließen oder zu verneinen ist für ihn absurd, weil es irrational ist und ihn seiner Möglichkeiten des Kontaktes mit sich und der Welt beraubt. Die Frage für ihn ist „Wie ist es?“ und nicht „Wie sollte es sein?”.
Erwachsenwerden ist wie eine zweite Geburt. Vor der Geburt hast du keine Vorstellung, wie das Leben danach ist. Kannst du auch nicht, weil du keine Erfahrung hast, um dir das Leben dort draußen auf zwei Beinen in der Welt der Schwerkraft vorzustellen. Genauso ist deine Geburt ins Erwachsenwerden, nur ist es diesmal eine psychische Geburt. Du wechselst die Seinsdimension. Und das hat nichts mit dem zu tun, was du dir vorher vorstellst. Der Fötus sagt auch nicht: „Das klingt aber toll, die Welt da draußen, da muss ich unbedingt hin!“, sondern er verlässt die vertraute, warme, schützende Gebärmutter, weil er das Gefühl hat, sonst von den Wehen zerquetscht zu werden. Er will nicht „raus“, er kann nur bleiben wollen, weil er nichts anderes kennt. Aber er drückt sich dann trotzdem mit aller Kraft ins völlig Unbekannte, weil Bleiben für ihn zu leidvoll, zu gefährlich geworden ist. Genau das brauchen wir, um den Ausgang ins Erwachsensein zu nehmen: Ausreichend viel Leid. Wenn du Glück hast, triffst du jemanden, der dir diesen Weg zeigt.
Jeder Mensch trägt den Keim zum Erwachsenwerden in sich. Was die meisten jedoch lebenslänglich davon abhält, sind psychische Betäubungen und Blockaden. Statt ab dem 12. Lebensjahr langsam in den natürlichen Prozess des Erwachsenwerdens überzugehen, bleiben die Menschen in ihren Kindheitsprägungen und -programmierungen verbarrikadiert. Und diese Verbarrikadierung besteht aus den psychosomatischen Mechanismen der Angst in Kombination mit irrationalen Glaubensmustern und Überzeugungen über sich selbst und die Welt.
Der chronische Zustand von Angst ist eine Traumareaktion aus einer großen Masse von psychischen Überforderungen und mangelnder Entwicklungsunterstützung – insbesondere Mangel an mentaler und emotionaler Hilfe zum Reifen. Je nachdem, wie früh und wie viel jemand das erlebt hat, hören die Menschen schon mit fünf, mit acht oder – in seltenen Fällen – erst mit zwölf Jahren auf, sich psychisch weiterzuentwickeln. Ihr Körper wird reifer und älter, aber emotional und mental bleiben sie für den Rest ihres Lebens in den Kodierungen verhaftet, die sich bis dahin eingeprägt haben. Es klingt absurd, aber obwohl sie immer mehr darunter leiden, leiden sie doch zu wenig, um einen anderen Kurs einzuschlagen, sich hinzusetzen und einmal ganz grundsätzlich nachzudenken. Ihr Leiden erreicht zu wenig ihr Bewusstsein, daher machen sie nur immer weiter wie sie es als Kind gelernt haben.
Kann man gleichsetzen: Jemand, der nicht erwachsen wird, ist auch nicht gesund?
Was ist gesund? Aus der Sicht eines Kindes heißt das: Funktionieren innerhalb der bekannten Umgebungen und Schemata. Das wird in der Medizin ja auch in etwa so gehandhabt: Du giltst dann als gesund, wenn du so funktionierst, wie das im allgemeinen sozialen Common als Norm definiert ist. Aber ein wirklich erwachsener Mensch sich nicht an äußeren Normen aus, weil er seinen Referenzpunkt in sich selbst trägt.
Als praktische Arbeitsdefinition würde ich sagen: Gesundheit ist die Übereinstimmung mit dem eigenen Wesen. Du kannst also durchaus mit Triefnase, Bauchschmerzen oder einem Hinkefuß vollkommen gesund sein, solange du mit deinem Wesen in Übereinstimmung bist. Gesund ist eine Frage der Übereinstimmung. Du musst dein eigenes Wesen kennen, um zu wissen, ob etwas gesund für dich ist oder nicht. Diese Überprüfung führen die wenigsten durch. Nicht einmal bei dem, was sie essen. Sie würden nicht mal auf die Idee kommen, dass sie den eigentlichen und einzigen Referenzpunkt für Gesundheit und Einklang in sich selbst tragen, weil die kindliche Psyche dadurch definiert ist, dass sie sich primär an Äußerem und an Autoritäten ausrichtet. Sie hat zu wenig Landkarte von sich selbst, um eine eigene innere Orientierung jenseits von körperlichen Bedürfnissen und Reflexen zu haben. Deswegen ist Gesundheit für ein Kind etwas völlig anderes als für einen Erwachsenen.
Aber für die Ausrichtung unseres Gesprächs ist es wahrscheinlich sinnvoller, diesen Punkt im Bezug auf Krankheit zu betrachten: Das, was wir landläufig als Krankheit bezeichnen, ist ein Symptom für den Versuch des Körpers, mit psychischen Konflikten und deren Nachwirkungen fertig zu werden. Also praktischer formuliert: Es ist ein Aufruf, nach „innen“ zu gehen und sich psychisch in Ordnung und das heißt auch, in Einklang mit sich selbst zu bringen.
Nach meiner Erfahrung sind jede Krankheit und auch die meisten Unfälle und Verletzungen psychosomatischer Natur und nur psychosomatisch verständlich und heilbar. Die Psychosomatik ist kein Teilbereich der Medizin, wie es üblicherweise behauptet wird, sondern die Medizin ist bestenfalls ein Teilbereich der Psychosomatik. Aber auch hier liegt der Unterschied im Blickwinkel: Aus der Sicht eines psychischen Kindes wirkt alles Körperliche stets mächtiger und wichtiger als alles Psychische. Ein Erwachsener kann sehen, dass es umgekehrt ist. Gesundheit und Krankheit sind besser verständlich als Aspekte der Beziehung zwischen Innen und Außen, also zwischen Wesen, Wesensausdruck und äußerer Welt.
Was ist dieses innere Wesen, von dem du sprichst?
Das Wesen ist das, was du bist, es ist unabhängig von deinen Entscheidungen und Gewohnheiten. Man könnte sagen: Es ist der Stoff, aus dem du in einmaliger Weise gemacht bist. Die interessantere und wichtigere Frage in Bezug auf ein mögliches Erwachsenwerden ist: Was ist überhaupt „innen“? Oder: Wo ist „innen“?
Für den Menschen im kindlichen Bewusstseinszustand ist „innen“ „irgendwo im Körper“. Dieses fragwürdige Welt- und Menschenbild ist die Grundlage von so gut wie aller heutigen Naturwissenschaft und Medizin, sogar Psychologie und weitestgehend der sogenannten Geisteswissenschaften. Was aber, wenn „innen“ nicht physisch oder physiologisch zu verstehen ist, sondern psychologisch? Dann bedeutet es so viel wie „in den Gefühlen“, „in den Gedanken“, „in der Wahrnehmung“ usw. Ein Mensch hat dann nur so viel Inneres, wie er Bewusstsein für diese psychischen Räume in sich hat. Innen gibt es nur da, wo wir uns selbst wahrnehmen.
Man kann Erwachsenwerden unter diesem Aspekt auch beschreiben als den Übergang von der physischen, körperlichen Orientierung am Außen und an Erfahrungen mit der Außenwelt – also vor allem auch an anderen Menschen und sozialen Gegebenheiten – hin zur Orientierung am Inneren, also an den psychischen Gegebenheiten innerhalb des eigenen Wahrnehmens, Denkens und Fühlens. Dieser Übergang ist die psychische Pubertät: Nicht nur körperliches Erwachsenwerden, so wie die Biologen sie beschreiben, sondern auch mentale und schließlich emotionale Emanzipation von allen Prägungen und Gewohnheiten. Ein Weg zu echter Selbstbestimmung.
Was wäre ein guter Umgang mit Jugendlichen, die in der Pubertät sind?
Im Sinne des bisher Besprochenen bezieht sich diese Frage keineswegs nur auf Jugendliche, sondern auf jeden Menschen, in dem das Potenzial und die Kraft des Erwachsen-werden-Wollens sich bemerkbar machen.
Man braucht allerdings einen bestimmten Hormonhaushalt, um sich durch den engen Geburtskanal der psychischen Geburt zu zwängen, um den Druck und die Widerstände des Prozesses inklusive seiner Schmerzen und Unsicherheiten auszuhalten. Geborenwerden heißt ja nicht nur, in eine bessere neue Welt zu gehen, sondern auch, die altbekannte Welt komplett zurückzulassen! Das ist die vollständige Pubertät: Der Übergang von der Raupe zum Schmetterling.
Dazu gehört die Zeit im Kokon, in der du eigentlich nur ein Haufen Matsch bist, der sich in einer unüberschaubaren, verwirrenden, aufregenden Transformation befindet. Es ist empfehlenswert – wenn nicht sogar notwendig – sich auch in einem späteren Lebensalter zumindest innerlich in diesen Zustand zurückzuversetzen, wenn man doch noch erwachsen werden will. Das funktioniert natürlich nur für diejenigen, die sich schon eingestanden haben, dass sie es noch nicht sind. Das ist eine Möglichkeit, wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, sich mit der dafür notwendigen rebellischen Kraft zum ultimativen Ausbrechen zu verbinden.
Wenn jemand psychisch erwachsen ist, dann braucht es keinen besonderen Umgang mehr mit einem Kind. Das Kind kriegt in seiner Jugend einfach immer mehr mit, dass es da eine andere Seite gibt und dass die wirklich Erwachsenen dort auf es warten. Wenn alles gut läuft, hat es dafür Zeit vom zwölften bis zum zwanzigsten Lebensjahr und muss seine auftauchenden existenziellen Fragen nicht verstecken, muss keine Ersatzrebellionen starten oder sich irgendeine soziale Nische oder quasi-religiöse Ideologie suchen, durch die es sich einreden kann, ganz anders oder etwas Besonderes zu sein. Es würde dann auch in keiner ausweglosen Sackgasse landen, sondern mentale Autonomie und emotionale Freiheit erlangen, so dass es sich intelligent und freudvoll durch die Realität bewegen kann.
Die Pubertät ist eigentlich ein rein innerlicher Vorgang. Die Raupe zieht sich in sich selbst zurück. Sie fängt nicht an, mit den anderen Raupen oder gar den Schmetterlingen zu streiten oder die Welt zu verändern. Helfen kann bei der Verwandlung, um die es geht, natürlich nur ein Schmetterling. Wenn die Eltern selbst noch Raupen sind, ist das ein gigantischer Abschied, der zunächst unmöglich erscheint – für beide Seiten. Aber er ist möglich, auch wenn die Raupe das nie erkennen wird. Für Raupen-Eltern ist ihr Kind, das im Kokon verschwunden ist oder später zum Schmetterling wurde, unverständlich und unheimlich, vielleicht sogar abartig und völlig fremd. Die kindlichen Strukturen im Kopf vor der Pubertät wollen das verhindern und immer zuhause bleiben. Stell dir eine schwangere Frau vor, die will, dass ihr Kind für immer in ihrem Bauch bleibt. Das würden wir als geisteskrank bezeichnen. Aus der Sicht eines Erwachsenen ist das Verharren in kindlichen psychischen Strukturen nach dem 16. Lebensjahr nichts anderes.
Das klingt wirklich irrational. Aber so erlebe ich mich manchmal auch, wenn ich bemerke, dass ich mich manchmal noch wie ein Kind verhalte.
Es mag sein, dass das Leben aus einer kindlichen oder früh-pubertären Perspektive aussieht wie ein ewiges Auf-der-Suche-Sein. Es gibt ja auch Leute, die das als Ideologie vermitteln: Das Leben ist ein ewiges Irren, ein ewiges, romantisches Sehnen und Verzweifeln am Unerreichbaren. Eine emotionale Achterbahnfahrt und ein Stochern im Nebel. Aber das ist nicht der Seinszustand, von dem hier die Rede ist. Es geht darum, unverrückbare, eigene Klarheit zu finden. Die echte Romantik beginnt erst danach. Sie ist nicht unerreichbar an sich, auch wenn sie für viele unerreichbar sein mag.
Natürlich darf jeder seine Meinung haben, Bücher veröffentlichen, Sekten und Glaubensgemeinschaften gründen. Auch das ist nichts anderes als ein großer wirtschaftlicher Marktplatz. Was die göttliche Komödie ausmacht, ist eben der Mensch im chronisch kindlichen Zustand. Sonst wäre es keine Komödie. Eine Welt voller Kinder, die sich ab einem gewissen Alter alle gemeinsam einbilden, sie wären erwachsen, und dabei mit allen Kräften verhindern, es tatsächlich jemals zu werden – dadurch entstehen all die Absurditäten dieser Welt. Der Zustand unserer Gesellschaften auf diesem Planeten lässt darauf schließen, dass der moderne Mensch in einem ausgesprochen frühen kindlichen Alter stecken geblieben ist. Er hat auf weiter Fläche kein Bewusstsein für die Realität, in der er sich bewegt – geschweige denn für sich selbst.
Worin besteht die Motivation, erwachsen werden zu wollen?
Zunächst darin, verstehen zu wollen. Erwachsenes Verstehen bedeutet, dass dein Wissen und deine Erfahrungen sich verbinden. Im besten Fall gibt es äußere Kräfte, die dir dabei helfen. Sokrates wurde gefragt, was sein Job ist und er sagte: Mäeutik – Hebammenkunst, also Geburtshelfer. Was soll das anderes heißen als der Psyche zu helfen, geboren zu werden? Das scheint also ein ganz alter Job zu sein, den es geben muss, seit es Menschen gibt. Man könnte sagen: Das männliche Pendant zur Hebamme.
Um im Sprachgebrauch deiner Interviewreihe zu sprechen: Es gibt für das Erwachsenwerden zwei wirklich hilfreiche „Pillen“: Die schwarze Pille, die das unmittelbare Sehen der eigenen Unvollständigkeit und damit auch das Leiden am eigenen Zustand erhöht. Und es gibt die rote Pille, die aufklärt und Ressourcen und Werkzeuge an die Hand gibt, um den notwendigen Weg zu finden und gehen zu können. Um ein anderes Bild zu verwenden: Die hilfreichen Engel tragen einen Schild und ein Schwert. Den Schild, um dich zu schützen vor all dem, was dich zurückhalten, hindern und stoppen könnte, und ein flammendes Schwert, um alles von dir abzuschneiden, was dich für den psychischen Geburtskanal zu fett und zu träge macht. Das tut weh. Das sind also nicht die Engel mit der Harfe. Die gibt es auch, aber sie warten auf der anderen Seite auf dich.
Für einen Menschen, dessen emotionale Entwicklung vor dem 12. Lebensjahr aufgehört hat – was statistisch der Normalfall ist –, ergibt das, worum sich unser Gespräch hier dreht, keinen Sinn. Solche Hinweise sind nur für diejenigen von Interesse, die den Zugang zum Erwachsenwerden bereits suchen und mehr oder weniger schmerzlich vermissen – auch wenn sie das so nicht benennen können. Deswegen ist der Anfang dieser Reise eine grundlegende und tiefgreifende Unzufriedenheit mit sich und dem eigenen Leben, die so stark wird, dass sie ebenso grundsätzliche und tiefgreifende Fragen aufwirft, die man nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Und diese Fragen können einen über den Weg der mentalen und emotionalen Pubertät zu mehr Verständnis und zu einem anderen Selbst- und Weltbewusstsein führen.
Wir sollten uns bewusst machen, dass Erwachsenwerden ein sehr schwieriger Weg mit einer sehr geringen Erfolgsquote ist. So wie sich Millionen Spermien zur Eizelle aufmachen, von denen es – wenn überhaupt – nur ein einziges schafft, ein neues Lebewesen hervorzubringen und seinen inneren Code der Einzigartigkeit zu inkarnieren. Viele sind gerufen, aber nur wenige sind auserwählt. Um das psychologisch zu übersetzen: Es gibt in dir tausende Motivationen und Stimmen, die zwar gerufen, aber nicht auserwählt sind, durchzukommen. Es gibt nur ein paar Stimmen in dir, die dich ans andere Ufer bringen können. Ein sinnvolles Motiv dieses Interviews kann nur darin bestehen, eine Klärung und Freilegung der Motivation zu schaffen, warum man überhaupt dort hinkommen wollen würde – also erstmal in die volle Pubertät als Geburtsprozess. Du erlebst einen Kinofilm ja auch nicht dadurch, dass dir jemand davon erzählt. Wir haben also eigentlich über den Zugang zur Suche selbst gesprochen und über das, was über deine Fragen und meine Antworten hinaus ins Unbekannte ragt.
Foto-Credit: Philipp Alsleben