„Wir müssen Prozesse erst geistig anstoßen, damit wir auf physischer Ebene die Resultate sehen. Bewusstseinserweiterung und körperliches Training gehören einfach zusammen.“
Manuel Guarrera
Diplom Sport- &Gesundheitstrainer, Fitnessclubleiter, Ausbilder der Personaltrainer Academy HP, Schüler der Ido Portal Methode, Performance Coach und Personal Trainer als “gravitycoach”: https://gravitycoach.com
Für meine Interviewreihe „Mach’s weg“ habe ich Interviews aus verschiedensten Perspektiven über die Corona-Krise, den Graben zwischen “Alternativ-” und Schulmedizin, und über eines der wichtigsten Themen im Leben geführt: Gesundheit. Aber was ist das überhaupt? Lassen sich Krankheiten und ihre Symptome einfach „weg machen“? Wieso kümmern sich Menschen umeinander? Und wie sähe ein Gesundheitssystem aus, das diesen Namen auch verdient hat?
Gesammelte Interviews aus „Mach’s weg“ erscheinen als Buch am 28.4.25 über Etica Media (Bestell-Link folgt).
Laurens Dillmann: Wie verlief dein beruflicher Werdegang?
Manuel Guarrera: Ich habe 2002 eine Ausbildung zum Diplom Sport-Gesundheitstrainer gemacht, in Kombination mit dem Kaufmann. Ich bin in die Fitnesswelt eingetaucht, weil ich mehr über den Körper und über Gesundheit verstehen wollte. Ich habe dann sportliche Leitung bekommen, durfte Trainingsflächen und Kurse betreuen, 2007 meinen ersten Fitnessclub führen. Dann kam ein großes Aber. Du merkst nämlich plötzlich, dass du eine Menge Vertriebsarbeit am Schreibtisch machen musst. Und ich habe an meine anfängliche Motivation gedacht. Die war nämlich eigentlich nicht, Zahlen zu jonglieren und Budgets zu erreichen. Also habe ich die Notbremse gezogen. Ich wollte Kundenkontakt, das, was mich ursprünglich begeistert hat. Ich bin also Personaltrainer geworden, etwa 2014/15 ist so der gravitycoach entstanden. Bis zum heutigen Tage bin ich selbstständig. Und mein Verständnis für Gesundheit – das was mich damals so fasziniert hat – wächst Tag für Tag. Ich bin dabei, meine eigene Essenz dieses Themas zu finden. Um sie an andere Menschen weiterzugeben.
Was genau tust du in einem Coaching?
Zuerst stelle ich sehr viele Fragen. Meine Anamnese ist so umfangreich, dass die Leute sich zwei Stunden mit sich selbst auseinandersetzen dürfen. Ich rege zum Denken an, bevor ich tatsächlich mit den Leuten arbeite. Das macht sie offener für das, was dann folgt. Was folgt ist eine Bewegungsanalyse. Ich schaue mir an: Wie gut können die Menschen ihren Körper im Raum bewegen? Ich hebe hervor, was sie gut können. Und ich lese ab, was sie nicht können. Dann gibt es adäquate Übungen und einen Trainingsplan, damit die Menschen ihren Bewegungshorizont erweitern können. Außerdem arbeite ich mit den Menschen an ihrem Mindset, an ihren Glaubenssätzen, an ihrem „Warum“, weshalb sie eigentlich beweglicher und gesünder werden wollen. Der Körper kann nur dahin gehen, wo der Geist schon war. Ich glaube, Bruce Lee hat das gesagt. So ein weiser Satz. Wir müssen Prozesse erst geistig anstoßen, damit wir auf physischer Ebene die Resultate sehen. Bewusstseinserweiterung und körperliches Training gehören einfach zusammen.
Was hat dich dazu gebracht, dich mit dem menschlichen Körper zu beschäftigen?
Das begann mit meiner Leidensgeschichte. Mit 18 oder 19 wurde mir bei der Musterung eine Skoliose attestiert. Ein fremder Mensch hat mir eine Pathologie attestiert, die mir davor gar nicht bewusst war. Eine „Fehlhaltung“, davon hatte ich in der Schule nie gehört, selbst im Sportunterricht nicht. Der Musterer sagte, meine Wirbelsäule wäre doppelt so alt wie ich. Das hat mich fuchsig und gleichermaßen deprimiert gemacht. Du kommst quasi kerngesund zum Arzt und bekommst so eine Information: Du bist krank. Und dann habe ich mich auch krank gefühlt! Dieser Stempel, den Ansprüchen nicht zu genügen, hat mir gar nicht gefallen.
Deswegen bin ich in die Fitnesswelt gegangen. Weil ich verstehen wollte, was genau bei mir nicht funktioniert. Ich musste verstehen, was ich offensichtlich falsch gemacht habe. Aber auch in dieser Welt habe ich meinen Körper nicht besser begriffen. Ich habe mir zwar eine Menge Muskeln nach ästhetischen Maßstäben aufgebaut, aber meine Schmerzen sind eigentlich nur noch schlimmer geworden. Mir wurde klar: Ich muss meinen Horizont erweitern, um zu verstehen, was vor allem auch die Gesellschaft und Kultur zu lehren versäumt hat. Und heute? Nächste Woche werde ich 42 und bin so beschwerdefrei wie nie zuvor. Ich merke jetzt, was für Möglichkeiten ich in meinem Körper habe, von denen ich zuvor überhaupt keine Ahnung hatte.
Was hat die Schwerkraft mit unserer körperlichen Gesundheit zu tun?
Ich pflege immer so schön zu sagen: You are made by gravity. Diese Urkraft begleitet uns vom ersten bis zum letzten Tag. Sie ist eine der wenigen Konstanten im Leben. Ihre Wirkung auf den Körper schafft eben die Reize, die unser Körper für seine Entwicklung braucht. Viele Sinne und Systeme würden ohne Schwerkraft nicht wirklich funktionieren. Zum Beispiel das Gleichgewichtsorgan, das wie eine dreidimensionale Wasserwaage funktioniert, würde ohne gravity nutzlos sein. Knochen bekommen ausschließlich durch die Schwerkraft ihre eigentliche Form. Welche Widerstände müssten unsere Muskeln überwinden, wenn es sie nicht gäbe. Uff. Wasser, aber dann wären wir offensichtlich keine Menschen. Auch das Herzkreislaufsystem ist dem Konzept der Schwerkraft angepasst. Gravity ist somit ein Teil unseres \“Gesundheitssystems\“, quasi ein Imperativ für den Körper.
Was macht die Faszination Körper aus?
Das hängt mit der Frage zusammen, wie Fitness eigentlich einzuordnen ist. Die Notwendigkeit für körperliche Betätigung fehlt an vielen Stellen. Wir müssen kaum noch physisch arbeiten. Vieles verlagert sich aufs Kognitive. Der Körper ist ein Rudiment vergangener Zeiten. Die Fitnesswelt liefert uns ein „Bewegungs-Vitamin“, das wir nach wie vor brauchen. Diese Welt will etwas abdecken, das wir eigentlich auf natürlichem Wege erleben sollten: Bewegung. Aber auch diese Welt ist von Menschen gemacht, mit beschränkten Ansichten über Fitness und den Körper. Und so bin ich wie viele andere ästhetischen Maximen erlegen: Einem bestimmten athletischen Bild mit vielen Muskeln. Ich bin wie zwanghaft fünfmal die Woche für zwei Stunden trainieren gegangen.
Irgendwann bin ich auf den Israeli Ido Portal und seine Movement-Philosophie gestoßen, die mich total begeistert und geprägt hat. Ido gab mir zu verstehen: Was du da machst, die ganzen Muskeln, die du dir da aufbaust, berücksichtigen null die Funktion deines Körpers. Lern dich doch erstmal wirklich grundlegend zu bewegen, lerne gehen, lerne laufen, lerne auf allen Vieren zu sein, berühre doch mal mit den Händen den Boden. Das hat mich total neugierig gemacht, sodass ich einen seiner Workshops besucht habe. Und das war mindblowing. Ido macht den Unterschied zwischen künstlicher Bewegung wie „Fitness“ und natürlicher, intuitiver Bewegung wie z.B. Tanzen, Kämpfen, usw. Er empfiehlt auch, sich in diesen Richtungen Hobbys zu suchen. Und mir selbst wurde klar. Ich will nicht immer die selben mechanischen Bewegungen machen. Stattdessen kann ich einen Weg gehen, der viel mehr Variation bietet. Einen Weg, der das Ziel ist. Und der schöne Nebeneffekt ist: Fit wirst du auch noch. Und ich fühle mich selbst viel mehr. Und bin viel mehr in Kontakt mit anderen Menschen. Ido vermittelt ebenfalls den Community-Gedanken, dass es wichtig ist, sich gemeinsam zu bewegen und zu Bewegung zu inspirieren.
Warum kümmerst du dich um andere Menschen?
Das hat mit meinem „Warum“ zu tun. Meine ersten zwei Jahrzehnte auf diesem Planeten waren turbulent. Ich bin Waisenkind. Als Kind ohne Stimme, von A nach B geschoben. Das war ein Trauma. Es gab auch keinen, der mir helfen konnte. Ich war ja eigentlich nur ein gestrandetes Kind, das auf sozialer Ebene mit Dach überm Kopf und Nahrung versorgt werden musste. Aber eine emotionale Heimat hatte ich nicht.
Ich habe mich immer sehr hilflos und ohnmächtig gefühlt und mich in mich selbst zurückgezogen. Ich habe mir immer gewünscht, dass es jemanden gibt, der es ernst mit mir meint und mich an die Hand nimmt. Als ich dann mit 18 das erste Mal diese Erfahrungen gemacht habe, war das sehr erleichternd. Ich weiß also sehr gut, was es mit Menschen macht, wenn man ihnen hilft. Ich lasse auch viele Elemente, die ich in meiner eigenen Trauma-Therapie erlebt habe, in meine Arbeit einfließen. Weil ich irgendwann realisiert habe, ich kann einem Menschen nicht helfen, wenn ich nicht in irgendeiner Form den Fokus vom Physischen wegnehme. Ich gehe nicht davon aus, dass jeder ein Trauma hat. Aber jeder trägt sein Päckchen und ist auf irgendeine Form limitiert. Das haben wir alle und das ist auch okay.
Auf der einen Seite hat es immer etwas Eigennütziges, wenn man hilft. Es fühlt sich gut an. Du gibst jemanden etwas Wertvolles und gibst dir selbst dadurch umso mehr. Beim Helfersyndrom muss man natürlich hinterfragen: Lenkst du dich von deinen eigenen Problemen ab? Aber wenn ich wirklich etwas zu geben habe, das andere Menschen brauchen, ist es sogar meine Verpflichtung es zu teilen!
Was bekommst du zurück?
Ein positives Gefühl. Dankbarkeit, Vertrauen. Wert. Du gibst jemandem etwas, das den Horizont erweitert und das Leben bereichert. Du weißt, ich habe einen Nutzen und einen Sinn auf diesem Planeten. Natürlich sollten wir zuallererst für uns selbst klar bekommen, was unsere Werte sind und was unser Sinn ist. Aber wir sind auch soziale Wesen und brauchen die Interaktion. Wenn du einen solchen Kanal für dich findest – ich habe einen Sinn! – ist das eines der schönsten Gefühle, die ich kenne.
Was bedeutet Gesundheit für dich?
Gesundheit ist für mich gleichzusetzen mit Glück oder Freude.
Und wie entsteht Gesundheit? Und was ist Krankheit, diesem Verständnis nach?
Gesundheit kann ohne Krankheit nicht existieren. Sonst gäbe es einfach nur ein Sein. Damit müssen wir uns abfinden. Ein Satz, der Gesundheit sehr nahe kommt: „Glück ist die Akzeptanz dessen, was ist.“ Das, was in unserer Gesellschaft passiert ist Unakzeptanz. Jeden Tag passieren Dinge, über die wir uns ärgern. Wir beschweren uns. Schon der Wortlaut. Ich ärgere mich. Das tut kein anderer, sondern ich tue das. Ich be-schwere mich, ich lade eine Last auf mich. Das mache ich alles selbst. Aber warum mache ich das, für Lappalien, für Dinge, für die der Ärger sich überhaupt nicht lohnt?!
Wenn du gewisse Dinge akzeptieren kannst wie sie sind, verlierst du viel Spannung in deinem Körper. Im Geiste und auch physiologisch. Deswegen sage ich: Gesundheit ist Glück. Wieso gibt es Orte auf der Welt, wo die Menschen über 100 werden aber nie etwas von „Fitness“ gehört haben? Wenn ich ein Leben in Freude erfahre und einen Beruf mache, den ich wirklich liebe, dann werde ich auch gesund altern.
Gesundheit ist für mich auch Wissen. Was muss ich eigentlich wissen, um mich adäquat bewegen zu können? Mich fasziniert oft, wie wenig Menschen darüber wissen. Und trotzdem nicht gebrechlich werden, weil sie einfach glücklich sind. Glück heißt auch, in einem sozialen Gefüge, in Interaktion zu sein. Sie sind bewegt, bewegte, emotionale Menschen. Emotional, Energie in Bewegung. Das gehört zum Glück. Das stellt sich mit Sicherheit nicht ein, wenn ich permanent vorm Fernseher auf der Couch sitze und mich von mir selbst ablenke.
Was macht die Corona-Situation mit unserem Verständnis von Gesundheit?
Das ist eine sehr gute Frage. Das was eigentlich wichtig wäre, das soziale Miteinander, der größte Stimulus für Lernerfahrungen, geht gerade komplett unter. Wir befolgen die Regeln und das mag auch eine Berechtigung haben. Aber ich nehme jetzt mal ein ganz plumpes Beispiel: Du siehst im Supermarkt die Person vor dir an der Schlange und da liegen die Cola-Flaschen und das Fleisch aus Massentierhaltung auf dem Kassenband. Jetzt hat die Person sich vielleicht durch ihre Maske geschützt – aber hat sie wirklich etwas für ihre Gesundheit getan? Oder eine Freundin von mir ist Friseurin und trägt stundenlang diese Maske. Sie hat nur noch Kopfschmerzen und Verspannungen. Inwiefern hat das jetzt ihrer Gesundheit gut getan? Atmen ist eine der wichtigsten Bewegungen, die wir haben. Da findet der Stoffaustausch im Körper statt. Es schadet dir, wenn dieser Austausch blockiert wird. Die Menschen sind leider nicht informiert, was dieses grundsätzliche Verständnis über Gesundheit angeht. Sie ernähren sich schlecht, schaden ihrem eigenen Körper. Das alles, weil das Verständnis für Gesundheit fehlt. Gesundheit bedeutet nicht nur Regeln befolgen. Auch wenn es durchaus sein mag, dass diese uns vor Schlimmerem bewahren.
Ich denke, die Menschen verstehen allmählich, dass unser Gesundheitssystem auch limitiert ist. Zwei Generationen vor uns wurden die Ärzte noch vergöttert – die Götter in weiß. Das hat sich heutzutage relativiert. Die Menschen verstehen immer mehr, dass ein Arzt ihnen nicht die magische Pille und alle Antworten liefern kann. Vor allem die jüngere Generation versteht das. Zwei Minuten Arztgespräch sind höchstens Symptombehandlung. Aus dieser Situation heraus werden Menschen eigenverantwortlich. Und das ist gut.
Auf welchen Werten würdest du ein Gesundheitswesen aufbauen, wenn du freie Hand hättest?
Du kannst Menschen nicht zu einem Verständnis von Gesundheit zwingen. Das geht nach hinten los. Einer meiner Werte ist Freiheit. Das muss ein Teil des Systems sein. Was wir in der Schulmedizin haben ist Unfreiheit. Wir sind an die Erfahrungen der Schulmedizin gebunden, und die sind beschränkt. Natürlich ist sie wichtig. Ich liebe die Pathologie, die erklären kann, was alles nicht funktioniert. Aber sie kann dir nicht erklären, wie es präventiv besser funktionieren würde. Das ist das große Drama der Schulmedizin und des Gesundheitssystems.
Was ich immer wieder faszinierend finde, ist alles, was aus dem fernöstlichen kommt. Da wird Bewegung quasi in die Wiege gelegt. Tai-Chi, Qi-Gong, das sind sehr gute Sachen. Ich rede nicht von chinesischen Schulen, wo man davon hört, dass es in die Kinder hinein geprügelt wird. Aber ein Gesundheitssystem müsste schon in der Schule ansetzen. Die jungen Menschen sollten sich selbst und ihren Körper besser und praktisch erfahrbar kennenlernen. Das passiert heute einfach zu wenig. Wir haben ein Bildungssystem, aber das sollte automatisch auch ein Gesundheitssystem sein. Wir sollten eigenständig lernen, wie wir präventiv für unsere Gesundheit sorgen können.
Foto-Credit: Manuel Guarrera