„Heute weiß ich, dass es wirklich vielen Menschen so geht: Sie gucken durch eine Glasscheibe in die Welt und sind nicht mit ihr verbunden. Das ist einfach schlimm und schmerzlich.“
Dami Charf
Für meine Interviewreihe „Mach’s weg“ habe ich Interviews aus verschiedensten Perspektiven über die Corona-Krise, den Graben zwischen “Alternativ-” und Schulmedizin, und über eines der wichtigsten Themen im Leben geführt: Gesundheit. Aber was ist das überhaupt? Lassen sich Krankheiten und ihre Symptome einfach „weg machen“? Wieso kümmern sich Menschen umeinander? Und wie sähe ein Gesundheitssystem aus, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt?
23 gesammelte Mach’s weg“-Interviews sind hier als Buch zu bestellen.
Laurens Dillmann: Was genau tust du in deinem Beruf?
Dami Charf: Das sind die kurzen Fragen, auf die es nur lange Antworten gibt (lacht). Im Grunde helfe ich Menschen, wieder in Verbindung zu treten. Mit sich. Aber nicht nur mit sich, denn das macht keinen Sinn. Sondern auch mit einem Du, einem Wir, und letztlich auch mit der Welt. Mit der Erde, auf der wir leben. Ich glaube, jede andere Form von Verbindung bleibt egozentrisch, im globalen Kontext ist jede andere Form von Verbindung zu kurz gedacht. Es kann nicht nur darum gehen, dass ich mit mir selbst glücklich bin. Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Die Idee von Glück, die momentan kursiert, halte ich für egozentrisch und unrealistisch.
Das ist der Kern und Sinn meiner Arbeit. Ich mache das auf dem Wege von körperorientierter Psychotherapie und bin spezialisiert auf Entwicklungstrauma. Wobei das Wort Trauma relativ irreführend ist. Es geht einfach darum: Wie verletzt sind wir aus unserer Kindheit gegangen? Da müssen nicht hochdramatische Dinge passiert sein, damit wir geprägt sind.
Wie läuft eine Therapie-Sitzung bei dir ab?
Es gibt keinen pauschalen Ablauf. Eine Sitzung ist so unterschiedlich wie jeder Mensch. Ich suche die Tür zu der Person, die vor mir sitzt. Wie kann ich dich erreichen? Wie kann ich Verbindung zu dir herstellen? Ich glaube, dass Integration – oder das große Wort Heilung – nicht dadurch geschieht, dass du dir nur die alten Geschichten anschaust. Das haben wir alle 1000-mal getan. Das tut weh und das tut es auch beim tausendsten Mal. Der Punkt ist, ob ich es schaffe, von hier und heute auf diese Geschichten zurück zu gucken und gleichzeitig eine neue Erfahrung zu machen. Heute ist es eben anders. Heute bist du nicht mehr alleine mit dem, was du erlebt hast. Ich bin dabei, ich trage es mit. Wenn es nur um reine Erkenntnis ginge, wären wir alle kurz vor der Erleuchtung. Es geht darum: Wie reagiere ich, wenn mir jemand näher kommt? Wie reagiert mein Körper darauf? Das sind die interessanten Fragen, die man am besten mit einer menschlichen Haltung zwischenmenschlich erforscht.
Die Haltung von Therapeuten ist dabei entscheidend. Es sollte nicht nur eine Rolle sein. Gerade Menschen, die sehr früh schon verletzt sind, haben ein gutes Gespür dafür, ob ihr Gegenüber echt ist oder eine Rolle spielt. Und mit einer Rolle kann ich einfach nicht in Beziehung treten. Das ist wenig heilsam.
Warum ist dir das Thema Verbindung so wichtig?
Menschen sind nicht autonom und werden es auch nie sein. Der große Fehler dieser Gesellschaft und dessen, was uns wirklich krank macht, ist der Gedanke an Autonomie und wie diese definiert wird: Ich kann das alleine. Ich muss es auch alleine können und nur wenn ich es alleine kann, bin ich gesund. Dieser Gedanke wird auch in vielen Therapien vermittelt und das halte ich für den gravierendsten Irrtum überhaupt.
Wir lernen Autonomie UND Verbindung durch ein Du und nicht durch ein Ich. Wir können nicht mit uns selbst in Verbindung sein, wenn wir es nicht über ein Du gelernt haben. Wir werden zum Ich über ein Du. Das vergessen viele. Wenn wir diese Spiegelung nicht hatten, haben wir große Probleme damit, uns überhaupt zu fühlen. Dann werden wir scheinautonom. Das heißt, wir verstehen unter Autonomie maximale Unabhängigkeit. Für mich bedeutet Autonomie, dass ich gut mit mir alleine sein kann, dass ich um Hilfe bitten kann und in intime Beziehungen treten kann. Und auch in Beziehung zur Welt bin.
Auf welche Werte berufst du dich?
Integrität. Ehrlichkeit. Bezogenheit. Verbundenheit. Wenn ich diese aufgeben müsste, würde ich auch nicht mehr arbeiten. Ich habe das Glück, selbstständig zu sein. Ich kann meine Firma, die ich inzwischen habe, so gestalten, wie ich das gerne möchte und diese Werte dort installieren. Aber diese Möglichkeit zur Selbstgestaltung auf die Frage – wofür stehe ich? – gibt es nicht überall.
Wie verlief dein persönlicher Weg bis zu deinem jetzigen Beruf?
Ich komme aus einem ziemlich gewaltvollen Haushalt mit recht chaotischen und übergriffigen Eltern. Als Kind empfindet man diese Zustände ja als normal. So ist es einfach, wahrscheinlich ist es bei allen so. Irgendwann stellte ich fest: Ist es nicht. Irgendwann habe ich gemerkt, dass irgendetwas mit mir nicht so richtig stimmt. Dass ich Macken habe, die nicht normal sind.
Mit 16 habe ich angefangen, Kampfsport zu betreiben. Mit 21 habe ich Wendo kennengelernt. Das war damals Teil der Frauenbewegung: Selbstverteidigung und Selbstbehauptung für Frauen und Mädchen. In der Frauenbildungsstätte wurde eine Ausbildung als Wendo-Lehrerin angeboten. Das war ein riesiges Glück. Es war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, hier total richtig zu sein und überhaupt etwas zu können. Mit 23 war ich dann ad hoc selbstständig und habe Wendo-Kurse gegeben. Da bin ich das erste Mal auf das Thema Trauma gestoßen, bzw. hineingefallen.
Vor 30 Jahren gab es das Wort Trauma nämlich nicht im öffentlichen Bewusstsein. Immerhin wurde damals über die Frauenbewegung in die Gesellschaft getragen, dass es so etwas wie sexualisierte Gewalt gibt. Das war natürlich ein Riesenthema in den Wendo-Gruppen. Darüber ist mir dann klar geworden, dass ich ähnliche Dinge in meiner Vergangenheit erlebt hatte. Und dann habe ich begonnen, Therapie zu machen. Da saß ich dann fünf Jahre bei einer tollen Therapeutin – sie hat damals schon körperorientiert gearbeitet – und habe mein Leben aufgeräumt. Dadurch hat sich unglaublich viel verändert. Das war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, ich komme wirklich in meinem Leben an. Ich werde präsent.
Der entscheidende Auslöser, selbst Therapeutin zu werden, war, dass ich schon immer unglaublich neugierig auf Menschen war und mich immer gefragt habe, warum ist das so? Warum z.B. werden Menschen, die einmal Gewalt erlebt haben, oft immer wieder Opfer? Wie kann das sein? Außerdem habe ich gemerkt, wie unglaublich meine Therapie mein Leben verändert hat und es war ein toller Gedanke, dies vielleicht auch für andere Menschen bereitstellen zu können.
Und so habe ich selbst eine körperorientierte Psychotherapie-Ausbildung gemacht. Aber nach manchen Wochenenden mit der Gruppe war ich völlig weg, konnte mich nicht mehr spüren. Heute weiß ich, ich war im Zustand der Dissoziation. Nachdem ich die Ausbildung beendet hatte und bereits selbst als Therapeutin gearbeitet habe, kam allmählich das Wort Trauma in der Psychotherapie-Szene auf. Dann war es ein Schlüssel-Schloss-Prinzip. Auf einmal hat alles gepasst. Ich habe die Beschreibungen gelesen und dachte immer: Die reden alle von mir. Wie spannend! (lacht) Damals war Trauma immer gleichbedeutend mit Schock-Trauma, also: überwältigende einmalige Erlebnisse. Dazu lernte man Methoden, wie man damit arbeiten könnte. Dann stieß ich noch auf die Themen Selbstregulation und letztlich auch Entwicklungstrauma. Das war der letzte Schlüssel, die Erleuchtung schlechthin. Wie gehe ich in Beziehung, wenn ich es in der Kindheit nicht gelernt habe? Welche Basis brauche ich, um an Traumata zu arbeiten? Für diese Themen schlägt mein Herz immer noch.
Was ist Selbstregulation?
Erklärungsversuch in zwei kurzen Sätzen: Selbstregulation ist die Fähigkeit, meine Emotionen so zu regulieren, dass sie mich weder überwältigen, noch ich mich gar nicht fühle. Es ist die Fähigkeit, Stress und auch Glück fühlen und regulieren zu können. Ich schreibe dazu ausführlicher auf meiner Website.
Was hältst du von der „Mach’s weg“-Mentalität?
Ein Wunsch, den wir bei einem Symptom oder einem einschneidenden Erlebnis haben, ist, die Zeit zurückzudrehen. Ich möchte gerne wieder sein wie vorher. Schade, geht nicht mehr. Was passiert ist, ist passiert und hinterlässt seine Spuren. Die Frage an uns ist: Wie gehe ich damit um? Ich glaube, das Leben ist zum Lernen da. Lernen ist unsere Hauptaufgabe. Alles ist ein Weg. Es gibt kein Ziel. Ich bin nie heil. Nie „perfekt“. Das wäre ja todlangweilig.
Wir können nur mit uns selbst mehr und mehr in Kontakt treten und Verantwortung für unseren Weg übernehmen. Mehr geht nicht. Das braucht Zeit. Und das ist in dieser Welt leider Mangelware. Alles soll schnell gehen. Aber persönliche Entwicklung, Integration von Trauma, das geht einfach nicht schnell.
In welcher Verfassung muss man selbst sein, damit man anderen Menschen helfen kann?
Ich glaube, jeder Therapeut muss selbst Therapie gemacht haben. Ich gehe ja auch nicht zu einem Schwimmlehrer, der noch nie selbst im Wasser war. Viel von meiner heutigen Haltung habe ich als Klientin gelernt. Zu wissen, wie es sich anfühlt, auf diese Weise jemandem gegenüber zu sitzen.
Wenn wir selbst unseren Keller nicht aufgeräumt haben, und da noch zu viel Müll rumliegt, projizieren wir ihn aufeinander. Das passiert in jeder engen Beziehung. Deswegen haben wir ja in Liebesbeziehungen so viel Spaß miteinander (lacht). Daniel Siegel definiert eine therapeutische Beziehung als eine Liebesbeziehung auf Zeit ohne Sexualität. Ich persönlich liebe diesen Spruch, ich empfinde ihn als wahr. Aber so wächst eben die Anfälligkeit für Übertragung und Gegenübertragung exponentiell. Das sollte es nicht. So verursacht man viel Leid. Ich höre immer wieder, dass Therapeuten zu Klienten sagen: „Du bist nicht therapierbar.“ Das ist eine Aussage, die mich zu Gott macht. Und die absolut vernichtende Auswirkungen auf mein Gegenüber hat. In keiner Profession sollte so etwas erlaubt sein. So eine Aussage darf einfach nicht passieren. Punkt. Da geht mir die Galle hoch.
Ich kann sagen: „Ich kann nicht mit dir arbeiten. Ich bin nicht die richtige Therapeutin für dich.“ Aber ich darf niemals aus meiner beschränkten Perspektive ein Urteil über mein Gegenüber fällen. Und jeder Mensch hat eine beschränkte Perspektive. Insofern halte ich es für sehr essentiell, meinen Keller aufzuräumen. Ich werde nie perfekt und heil sein. Aber wenn ich einen Fehler mache und mir mein Klient das mitteilt, sollte ich die Größe haben, nicht zu antworten „Du projizierst oder überträgst etwas auf mich“, sondern schlicht und einfach „Entschuldigung“.
Es gibt dermaßen viele Machtinstrumente in der Therapie. Mir wird mulmig, wenn ich daran denke, welches Machtgefälle in diesem Raum besteht und wie wenig wir überwacht werden. Wir werden schlechter überwacht als jeder Lastwagenfahrer. Das macht mir Bauchschmerzen. Ich arbeite mittlerweile eigentlich nur noch in Gruppen und immer zu zweit. Da werde ich “überwacht”. Man kann sich gegenseitig korrigieren, wenn man merkt, etwas läuft schief.
Warum kümmerst du dich?
Gute Frage. Weil ich Menschen mag. Weil ich irgendwann mal gelernt habe, dass ich Menschen erreichen kann. Auf Arten und Weisen, die andere vielleicht so nicht hinkriegen? Dass ich Sachen sagen darf, die andere nicht sagen dürfen – und Leute fühlen sich trotzdem nicht angegriffen. Und weil ich sehe, dass diese Welt den Bach runtergeht, wenn wir nicht beginnen, wieder mit uns selbst und anderen Lebewesen in Verbindung zu treten. Wir sägen so enthusiastisch an dem Ast, auf dem wir sitzen. Was soll man dazu noch sagen? Mein Beitrag ist, Menschen zu unterstützen, fühlen zu dürfen, berührbar sein zu dürfen. Verletzlich zu sein. Was sich viele abgewöhnt haben, weil es mit so viel Angst verbunden ist.
Geht es in der Essenz der Heilberufe um Nächstenliebe?
Ich arbeite nur mit Leuten, die mir sympathisch sind. Alles andere geht nicht. Irgendwann wirst du merken, wenn ich dich nicht besonders mag. Damit wiederholt sich deine Geschichte und das ist Horror. Sympathie ist die Grundlage, ob du mir vertraust. Um was geht es in einer Therapie mehr als um das Vertrauen? Ein Klient legt sehr viel Macht in meine Hand, wenn er meinem Urteil und meiner Führung vertraut. Ein Schild an der Tür macht einen Therapeuten noch nicht vertrauenswürdig. Um Menschen zu unterstützen, habe ich den kleinen Ratgeber “Wie man einen guten Psychotherapeuten findet” geschrieben. Dort schreibe ich auch, welche Fragen man stellen sollte, bevor man sich auf so einen Prozess einlässt.
Eine meiner Aufgaben als Therapeutin ist, dass ich daran glaube, dass es für dich besser wird. Ich halte die Hoffnung hoch, auch wenn du sie nicht hast. Und du merkst, dass jemand an dich glaubt. Da gibt es Studien zu: Selbst bei einer Klasse aus sozial schwierigen Verhältnissen – wenn diese Klasse von ihren Lehrern gesagt bekommt, dass an sie geglaubt wird, dass sie gute Schüler sind, sind sie das am Jahresende auch. So sehen wir, was die Haltung ausmacht. Daran glaube ich fest. Ich muss dich mögen – oder lieben, so kannst du es auch definieren – damit ich Mitgefühl haben kann. Die meisten Menschen haben sehr wenig Mitgefühl mit sich selbst. Ich denke, das ist eines der wichtigsten Dinge, die es zu lernen gibt. Dass wir mit uns selbst milde sind. Niemand spricht so hart mit uns selbst, wie wir selbst.
Wie gehe ich damit um, dass viele Menschen traumatisiert sind und deshalb aus der Gesellschaft keine Gemeinschaft wird?
Heul erstmal eine Runde. Weil es in sich nicht zu lösen ist. Das ist das Dilemma. Wir leben in dieser Kondition. Und kapieren oftmals überhaupt nicht, was mit uns los ist. Dass Normalität bei uns eigentlich Funktionalität bedeutet. Und dass Aufwachen weh tut. Es ist nicht: Heureka! Jetzt ist alles schön. Das erste, was passiert, ist: es tut richtig richtig weh. Ich fange an zu realisieren, was mit mir geschehen ist. Wie wenig ich da bin. Wie wenig ich mein Leben wirklich lebe. Wie wenig Liebe es vielleicht in meinem Leben gibt.
Für mich war einer der Aufwach-Augenblicke, als sich mein Kindertraum erfüllt hatte: Ich saß in einem Park in Kanada, aber es hat mich überhaupt nicht berührt. Es kam nicht an mich ran. Als würde ich durch eine Glasscheibe gucken. Jeder Film über Kanada hat mich mehr berührt, als dann selbst dort zu sitzen. Das war ganz schlimm. Und ich konnte natürlich überhaupt nicht benennen, warum das so war, außer eben innerlich diesen Satz zu sagen: Mit mir stimmt irgendetwas nicht. Heute weiß ich, dass es wirklich vielen Menschen so geht: Sie gucken durch eine Glasscheibe in die Welt und sind mit ihr nicht verbunden. Das ist einfach schlimm und schmerzlich. Punkt.
Wir können nur tun, was wir tun können. Du machst deine Interviews. Ich mache meine Arbeit, schreibe meine Bücher, mache meine Youtube-Videos. Ich glaube, viele Menschen unterschätzen, dass sie überhaupt einen Beitrag leisten können. Wir können aber. Wenn wir uns trauen. Das wäre der Weg. Dass jeder erst einmal in sich und seinem Umfeld andere Konditionen schafft. Je mehr wir initiieren, desto größer werden die Wellen. Das ist meine Hoffnung.
Welche Rolle spielt Glaube im Prozess der Heilung?
Ich muss zumindest an meine Gestaltungsmöglichkeiten und Selbstwirksamkeit glauben. Das ist das Minimum. Es ist auch nachgewiesen, dass Menschen, die an etwas glauben, dass größer ist als sie, viel resilienter sind. Ich persönlich glaube, dass es uns Menschen ein bisschen an Demut mangelt. Diese Demut kann ich natürlich bekommen oder erleben, wenn ich mich einfach als Teil des Lebens wahrnehme – nicht als die Krone der Schöpfung. Das Leben und seine reine Existenz ist einfach ein Wunder. Viel größer und komplexer und sinnhafter, als dass ich es jemals erfassen könnte.
Deswegen sehe ich auch ein großes Drama in der Esoterik-Szene. Weil es letztlich ganz viel um Kontrolle geht. ‘Wenn ich nur genügend positive Gedanken habe, bekomme ich keinen Krebs. Ich ziehe mir mein Glück durch positive Einstellung einfach selbst an.’ Ich finde das gruselig, ehrlich gesagt. Da steckt der Glaube an Allmacht drin. Den habe ich nicht. Ich bin nicht gegen Krankheit oder andere schreckliche Dinge gefeit, nur weil ich mich bemühe, ein guter Mensch zu sein. Das Leben wird mir den Beweis liefern: Ich habe die Kontrolle nicht. Aber je mehr Kontrolle ich haben will, desto leichter bin ich traumatisierbar. Der Kern von Trauma ist Ohnmacht und Kontrollverlust. Je mehr ich versuche, alles zu kontrollieren und zu glauben, ich könnte bestimmen, ob mir und meinen Lieben etwas passiert, desto mehr bin ich tatsächlich traumatisierbar. Solange ich glaube, dass ich mein Leben in Kontrolle führen kann, werde ich immer wieder tief, tief fallen.
Wie hast du die letzten Monate in der Corona-Zeit erlebt?
Ich war vorher in den USA, auf Hawaii. Ich wollte fünf Monate auf Reisen sein, bin im März aber aufgrund der sich anbahnenden Lage nach Deutschland zurückgekehrt. Eine Woche später war Lockdown. Ich wohne alleine und bin auch eine Woche alleine geblieben. Danach nicht mehr. Die Definition von Familie ist ja momentan wieder auf die Kernfamilie beschränkt worden. Da kann und will ich nicht mitgehen, weil es unglaublich viele Menschen in vollkommener Isolation zurück lässt. Sehr viele Menschen in Deutschland leben mittlerweile in einem Einpersonenhaushalt, das heißt aber nicht immer, dass sie keine nahen Menschen haben, mit denen sie in engem Kontakt stehen. Ich habe meine Kontakte weiter gepflegt und mit meiner Wahlfamilie Umgang gehabt.
Meiner Meinung nach macht uns diese Situation noch körperfremder und noch kontaktpanischer. Es zerstört noch mehr Verbindungen. Das macht mir Angst. Weil Leute das internalisieren. Den Abstand. Ich habe ein, zwei Freunde, die das noch immer einhalten. Es macht eine irre Distanz. Meine größte Angst ist, dass sich das verfestigt. Du bleibst ein Stück weit virtuell für mich, wenn es keinerlei Körperkontakt gibt. Das halte ich für eine ziemliche Katastrophe.
Das andere große Thema ist die Panik vorm Sterben, die diese Gesellschaft hat, und die jetzt zutage gekommen ist. Wir sehen Sterben nicht mehr als Teil des Lebens. “Es darf nicht passieren, es ist der Super-GAU”. Dabei wäre es sehr sinnvoll, sich damit auseinanderzusetzen, dass es nun einmal dazugehört. Wie hieß der Spruch…“bisher endet jedes Leben auf der Erde immer noch zu 100 % für alle tödlich“. Warum habe ich denn so viel Angst zu sterben? Ich denke, ich habe umso mehr Angst davor, je weniger ich das Gefühl habe, gelebt zu haben. Dann fange ich an, mit dem Tod zu kämpfen. Weil mir plötzlich bewusst wird, das Ganze hat ja doch ein Ende. Und ich denke,” scheiße, ich habe alle meine Träume aufgeschoben”. Oder ich zeige meine Liebe nicht. Oder oder oder. Darin liegt ein Aufruf von Corona.
Warum nicken wir Maßnahmen ab, die tendenziell unserer psychischen Gesundheit schaden können?
Angst ist eine gute Beratung, aber ein schlechter Führer. Die Angst, mit der hier alle unterwegs sind, ist wie eine Zange. Entweder habe ich selbst Angst zu sterben, oder ich habe Angst, dass ich dich töten könnte. Da gehen die meisten in die Knie. Damit können sie nicht leben. Ich glaube, so einfach ist es. Dann nicke ich alles ab, was mir diese Angst nimmt. Außerdem sind wir dazu erzogen, abzunicken. Leider. Es gibt ja sowas wie eine Moralentwicklung. Wie Kinder Regeln lernen. Du spielst mit kleinen Kindern Mensch-ärger-dich-nicht, und nachdem du auf dem Klo warst, sind die Spielfiguren verschoben. Wenn du nicht drauf schaust und kontrollierst, halten sie sich nicht an die Regeln. Wenn wir erwachsen sind, stehen die Figuren so da wie vorher. Du hast die Regeln gelernt.
Ganz wenige Menschen gehen eine Stufe weiter und stellen Regeln infrage. Wir sollten eher auf die ethische Komponente schauen als auf die moralische. Das ist für mich ein riesiger Unterschied. Vor 80 Jahren war es moralisch okay, einen Menschen umzubringen, weil er den “falschen Glauben” hatte. Noch heute ist das für manche Menschen moralisch okay. Moral kann also auch nicht der alleinige Führer sein. Was ist eigentlich Ethik? Was sind meine Werte? Diejenigen, die unangreifbar von der hiesigen Moral sind.
Das sind Fragen, die ich mir stellen muss. Dieser Schritt kostet mich Energie und er bedeutet, dass ich mich gegen etwas stellen muss. Das ist immer anstrengender, als mit dem zu gehen, was vorgegeben wird. Das braucht Mut. Und Mut fällt schwer, wenn ich mich alleine fühle. Wenn ich Mut und Widerstand vereine, werde ich womöglich fanatisch. Wenn ich Verbindung und Mut zusammenstelle, kreiere ich etwas Menschliches.
Fühlst du dich gesellschaftlich für deinen Beruf angemessen gewürdigt?
Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Momentan bin ich als Körperpsychotherapeutin quasi auf einer Ebene mit Prostitution (lacht). Wir berühren, aber wir dürfen das gerade eigentlich nicht. Nein, natürlich fühle ich mich nicht gewürdigt. Körperpsychotherapie ist ein Randphänomen und nicht kassenanerkannt. Regelmäßig wird gegen alle möglichen alternativen Psychotherapien als Scharlatanerie gehetzt. Das wird sich auch in absehbarer Zeit nicht ändern. Auf nicht absehbare Zeit gibt es Kontaktbeschränkungen und Abstandsregelungen. Menschen lernen schnell. Kinder kriegen gerade eingebläut, dass sie Abstand halten sollen. Dass Kontakt möglicherweise mein Gegenüber tötet. Wenn ich zur Zeit auf der Straße sehe, wie Kinder reagieren, wenn ein Erwachsener Kontakt herstellen will, und sie zurückweichen, das bricht mir echt das Herz.
Das sind keine schönen Aussichten. Hast du Sorge, daran zu zerbrechen?
Nein. Ich stehe für das ein, an das ich glaube. Es gibt Menschen, mit denen ich diese Haltung teile. Uns gibt es eben auch noch. So ist es. Es ist ja keine Ideologie, der ich folge. Sondern etwas, das ich zutiefst fühle und glaube. Ich will diese Haltung leben, nicht nur als Beruf, sondern voll und ganz. Ich kann gar nicht anders als weitermachen. Was soll ich sonst tun?
Fantasiespiel: Du bist Königin deines eigenen Landes und kannst ein Gesundheitswesen nach deinen eigenen Wünschen errichten:
Ich muss dir ehrlich sagen, ich könnte das nicht. Das ist so komplex und so bin ich gar nicht strukturiert. Ich würde das delegieren an Menschen, die Ahnung von derlei komplexen Strukturen haben. Ich glaube, ein wichtiger fehlender Baustein unserer Zeit ist, dass wir nicht komplex denken lernen. In einer hochkomplexen Welt sind Menschen sehr viel mit einfachen Ursache-Wirkung-Prinzipien beschäftigt. Auch ein Gesundheitswesen ist komplex. Da scheitere ich leider dran. Sicher geht es darum, dass Gesundheit für alle erreichbar ist. Und dass wir Gesundheit anders denken. Nämlich nicht als die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit ist mehr. Wenn wir eine bestimmte Begrifflichkeit als Grundlage installieren, kommen wir auch zu anderen Lösungen. Wenn wir Gesundheit und Medizin so mechanistisch denken wie momentan, kommt zwangsläufig der Status Quo dabei heraus.
Wenn ich Gesundheit als etwas begreife, das einen Umwelt-, einen Körper-, und einen Psyche-Faktor hat, sowie einen globalen, müsste ich in völlig anderen Kategorien und Systemen denken. Das wäre für mich die Voraussetzung, bevor ich ein Gesundheitswesen installiere. Also diese Fragen stellen: Was ist Gesundheit überhaupt? Wie wollen wir miteinander leben? Und was für ein System würde genau dies fördern?
Bildquelle: Dami Charf
Gute Fragen – und authentische Antworten, die mich sehr ansprechen. Gerade, klar, nachvollziehbar. Und weil ich mich in vielem wiederfinde, spüre ich Verbindung. Danke dafür, Dami und Jörg
Danke, Silvia!
Wow! Was für ein starker Satz: „Wir verehren Funktionalität, nicht Gesundheit!“. Seit über 10 Jahren bin ich nun als Coach tätig und aktuell in Ausbildung zur „Körperorientierten Prozessarbeit“. Erst seit einiger Zeit wird mir (natürlich hauptsächlich in Bezug auf mich selbst) bewusst, wie oberflächlich und teilweise auch „unecht“ viele Coaches arbeiten (mich eingeschlossen). Ich habe mich selbst jahrelang von meinem Leid dissoziert, um zu funktionieren und das noch an andere Menschen weiter gegeben!!! Gerade im unternehmerischen Kontext „muss“ der Mensch (auch von Coaches) funktionsfähig gemacht werden. Anstatt GESUND. Ich bin froh, dass ich inzwischen auf einem anderen Weg bin und mich aus dieser Art von Coaching heraus-entwickelt habe, wobei die Entwicklung noch lange nicht abgeschlossen ist – oder sogar eher als immer andauernder Prozess beschrieben werden könnte 😉
Dank diesem Interview sehe ich das nochmal klarer für mich!
Auch die Haltung, dass ich in einer Therapie-Sitzung als Therapeut etwas von mir zeigen darf, mich nicht „zurück halten“ muss entspricht viel mehr meinem Wesen als die „ich-hab-die Weisheit-mit Löffeln-gefressen-Einstellung“. Danke für diese Sicht, Dami!
Ach…und es gibt noch so viele (mich) ansprechende Sätze in diesem Interview….
Danke Laurens!
Nochmal Danke, Isabel. 🙂